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Ausgabe 03/22 Wahrheit

Und die Kinder bringt der Storch

Lesedauer: ca. 8 Min.

Autor: Benedikt Bögle | Illustrationen: Carina Crenshaw

Und die Kinder bringt der Storch

Künstliche Intelligenz (KI) kann dem Menschen überlegen sein. Wahrheitsfähig ist sie nicht, sagt Professor Armin Grunwald.

Immer mehr Bereiche unseres Lebens werden von Computern, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz beherrscht. Laufen sie der Menschheit bald auch bei der Wahrheit den Rang ab?

Filme spielen schon lange mit dem Gedanken: Was, wenn es irgendwann intelligente Maschinen geben könnte? Wenn Roboter und Computer einen eigenen Willen entwickeln, vielleicht sogar zum Herrn über den Menschen werden? Mit dieser Angst lassen sich Kinosäle füllen. Ist die Angst realistisch, wären Maschinen eines Tages zur Wahrheit fähig. Sie wären dem Menschen überlegen. Professor Armin Grunwald hat keine Angst vor Computern und Algorithmen. Grunwald ist Physiker und Philosoph. Sein Fachgebiet ist die Technikfolgen-Abschätzung. Er und sein Team untersuchen technische Ansätze und fragen, welche Folgen sie für unsere Welt und unsere Gesellschaft haben können. Die Erkenntnis ist nicht neu: Viele Meilensteine menschlicher Entwicklung brachten nicht nur Segen mit sich. Sprengstoff kann nicht nur zum Straßenbau eingesetzt werden, sondern auch als Kriegswaffe.

Sorge ja, Angst nein

„Ich schätze den Begriff der ,Sorge’. Dahinter steht das Interesse an einer guten Zukunft. Anders ist es mit der Angst: Die lähmt, macht fatalistisch“, sagt Grunwald. Und tatsächlich: Gerade Algorithmen und künstliche Intelligenz haben das Leben des Menschen vereinfacht. Jeder Mensch ist täglich von einer Vielzahl von Algorithmen umgeben. „Ein Algorithmus ist eine festgelegte Abfolge von Schritten. Es gibt ,Wenn-Dann-Befehle’. In einer langen Reihe von Prozessen kommt am Ende ein Ergebnis heraus“, erklärt Grunwald.

Wir kennen das aus der analogen Welt. Die Rechtschreibung beispielsweise ist ein solcher Algorithmus: Wenn ein Satz endet, muss das folgende Wort großgeschrieben werden. Wenn ein Relativsatz folgt, muss ein Komma gesetzt werden. Nicht viel anders funktionieren Rechtschreibprogramme am Computer. Heutige Algorithmen sind um ein Vielfaches komplexer geworden. Sie schlagen uns die schnellste Route mit dem Auto oder den nächsten Netflix-Film vor. Es gibt aber auch viele Ansätze, Algorithmen in der Verwaltung und im Staatswesen einzusetzen.

Es wäre beispielsweise denkbar, dass Sozialleistungen durch Computer vergeben werden. Ein Algorithmus könnte berechnen, ob ein Antragsteller Arbeitslosengeld bekommt oder nicht. Doch die Wirklichkeit ist komplexer: Gesetze räumen der Verwaltung einen Spielraum ein, geben die Möglichkeit zum Ermessen, lassen Einzelfallentscheidungen zu. Für einen Algorithmus ist das undenkbar: „Richter exekutieren nicht einfach nur algorithmische Gesetze“, sagt Grunwald. Gerade bei sehr komplexen Algorithmen folgt ein weiteres Problem: Sie werden schnell intransparent. „Man weiß bei sehr komplexen Algorithmen und großen Datenmengen nicht immer, ob ein Ergebnis, das am Ende herauskommt, richtig ist oder falsch. Kann man das noch überprüfen?“

Wie intelligent sind Algorithmen, können Maschinen Bewusstsein entwickeln?

Gerade weil Algorithmen so komplex geworden sind, drängt sich eine Frage auf: Sind sie intelligent? Gibt es wirklich künstliche Intelligenz oder ist das eine rein menschliche Eigenschaft? „Algorithmen bearbeiten eine große Menge an Daten“, erklärt Grunwald. „Je mehr Daten, desto genauer kann ein Algorithmus entscheiden.“ Gemeint ist die Fähigkeit, sich aufgrund von Daten zu entwickeln. „In einem gewissen Sinne ist das Intelligenz“, sagt Professor Grunwald. Algorithmen können sogar lernen. „Lernen heißt: Algorithmen können sich verändern über die Zeit. Sie verändern sich aufgrund der Daten, die sie auswerten.“

Vertrauen
Liebe
Zuneigung

In der Informatik gibt es aber noch eine weitere Idee, die mit dem Begriff der „starken KI“ beschrieben wird. Dahinter steht der Gedanke, die Maschinen könnten irgendwann ein eigenes Bewusstsein entwickeln. „Heute gibt es keine ernstzunehmenden Wissenschaftler, die denken, dass das in den nächsten Jahren erreicht werden könne. Auf absehbare Zeit also wird eine Maschine eben das bleiben: eine Maschine. Die kann dem Menschen durchaus überlegen sein“, sagt Grunwald. Rechenprozesse kann kein Mensch so gut bewältigen, wie ein Computer – das gilt mittlerweile sogar für das Schachspiel.

Aber macht das einen Computer fähig zur Wahrheit? Wer unter Wahrheit nur die korrekte Erfassung von Daten und Zahlen versteht, muss den Computer für wahrheitsfähig halten. Armin Grunwald erklärt aber, dass Algorithmen schon beim Verstehen von Kausalitäten versagen. Ein Algorithmus kann Korrelationen begreifen und darstellen. Er kann verschiedene Ereignisse miteinander in Verbindung bringen. Ein Beispiel dafür ist das „Storchparadoxon“. In einem Land mit vielen Geburten gibt es viele Störche. In einem anderen Land mit weniger Geburten gibt es weniger Störche. Störche und Geburten „korrelieren“ also – die Zahlen entwickeln sich ähnlich nach oben oder unten. Das aber heißt noch nicht, dass Störche auch für Geburten kausal wären – also etwa ein Storch die Kinder bringt. „Der Algorithmus erkennt Korrelationen. Aber ob diese Korrelation auch mit einer Kausalität verbunden ist, kann der Computer nicht mehr beantworten“, sagt Grunwald.

Wahrheit ist mehr als Zahlen und Daten

Und dann gibt es da noch einen Aspekt: Zur menschlichen Wahrheit gehören nie nur Zahlen, Daten und Fakten. Unser Menschsein wird in erheblichem Maße von Gefühlen geprägt, von Liebe und Vertrauen, von Zuneigung und Abneigung. Wir sind zur Empathie fähig. Das lässt sich nicht immer in Zahlen fassen. Und: Wir Menschen sind fähig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden; auch das gehört zur Wahrheit des Menschen. Dazu wird ein Computer nicht in der Lage sein: „Ausrechnen kann man nur das Sein. Aber vom Sein kann man nicht auf das Sollen schließen“, so Grunwald. Ein Computer kann herausfinden, dass Menschen sich in allen Ländern der Erde töten. Aber: „Nur, weil Menschen getötet werden, ist das Gebot „Du sollst nicht töten“ ja nicht falsch“, meint Grunwald. Der Mensch kann werten und bewerten – das kann ein Algorithmus nicht.

Angst also hat Grunwald nicht. Computer werden uns nicht in Kürze beherrschen. Vorsicht aber ist angebracht: Davor, dass Algorithmen immer mehr Entscheidungshoheit bekommen und wir nicht mehr verstehen, woher ihre Legitimation eigentlich kommt. KI ist ein Gewinn für den Menschen. Gleichzeitig dürfen wir nicht den Blick für das verlieren, was den Menschen ausmacht und von einer Maschine nicht übernommen werden kann und darf.