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Ausgabe 03 Identität

Hundert Prozent Leidenschaft

Redaktion: Benedikt Boegle

Hundert Prozent Leidenschaft

Michael Köllner ist eine Ausnahmeerscheinung im Profi-Fußball. Dem Trainer des 1. FC Nürnberg geht es um mehr als Tore oder Taktik. Der Oberpfälzer will seinen Spielern auch abseits des Rasens Orientierung geben. Der Glaube gehört für ihn zu seiner Identität. Aber er sorgt sich um die Kirche. Ihr drohe der Abstieg in die Drittklassigkeit.

Manchmal sind es diese kleinen Momente, die mehr über einen Menschen aussagen als große Worte. Michael Köllner öffnet die Tür zum Treppenhaus der Geschäftsstelle des 1. FC Nürnberg. Da stürmen junge Nachwuchsfußballer des Vereins die Treppe hinauf. Nun hätte der Cheftrainer der Bundesliga-Profis mit einem schlichten „Servus“ an den 10- oder 11-Jährigen vorbeigehen können. Köllner bleibt stehen. Er hält den jungen Kickern die Tür auf und klatscht jeden Einzelnen beim Vorbeigehen ab. High five. Die Jungs finden das offensichtlich cool.

Michael Köllner ist ein Menschenfreund. Das spürt man, wenn man den 48-Jährigen beobachtet und erlebt. Beim Umgang mit seinen Spielern im Training, beim Small Talk mit den Fans, die ihn nach der Übungseinheit um ein Autogramm bitten, beim intensiven Gespräch mit Medienvertretern. Der Club-Trainer, der aus der Oberpfalz stammt, ist zugewandt, respektvoll, aufmerksam. Alles andere als ein Selbstdarsteller, von denen es in der Fußball-Szene nur so wimmelt. Köllner zählt zu den wohltuenden Ausnahmeerscheinungen. „Am Ende geht es immer darum, dass du einen Menschen vor dir hast“, sagt er im Gespräch mit GRANDIOS. „Dieser Mensch will glücklich sein, auch im harten Fußball-Business.“

Ein Schlitzohr

Köllner ist einer, der er selbst geblieben ist – trotz des sportlichen Erfolgs, trotz der großen Bühne Bundesliga. Er hat sich nicht verbiegen lassen, auch nicht durch den Medienrummel rund um den Profifußball. Um zu verstehen, wie er zu dem wurde, der er heute ist, muss man eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit machen. 40 Jahre zurück nach Fuchsmühl. Das ist ein beschaulicher Ort mit 1600 Einwohnern im Landkreis Tirschenreuth in der Oberpfalz. Hier ist Köllners Heimat. Und diese Heimat hat ihn geprägt.

„Das war für mich als Kind wie ein Abenteuerspielplatz“, erzählt er. Seine Tante und seine Großeltern hatten das größte Wirtshaus im Ort mit Metzgerei. „Das Leben in einer Gaststätte mit den vielen Menschen erzieht dich ein Stück weit. Die Stammgäste geben dir den einen oder anderen weisen Spruch mit auf den Weg.“ An diese Ratschläge habe er sich aber nur selten gehalten. Der „Michl aus Fuchsmühl“, wie er von einigen bis heute genannt wird, war ein richtiges Schlitzohr.

„Es gab genügend Betätigungsfelder, wo ich als kleiner Junge Blödsinn machen konnte“, sagt er mit schelmischem Grinsen. Hausaufgaben hatten für den kleinen Michael nur begrenzten Charme. „Ich habe in den ersten vier Schuljahren keine zehn Mal meine Hausaufgaben gemacht“, erinnert er sich lachend. Manchmal kamen die Lehrer sogar zu ihm nach Hause, damit er wenigstens am folgenden Tag seine Aufgaben erledigt hatte. Wenn Köllner heute zurückblickt, spricht er von einer behüteten Kindheit, einer guten Zeit. Auf diesem Fundament ließ sich aufbauen. Es war die Grundlage für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. „Ich hatte starke Wurzeln“, sagt Köllner. Starke Wurzeln sind wichtig. Wenn einem später der Wind um die Ohren pfeift, geben sie Halt.

Konsequenz und Glaubwürdigkeit

Mit zehn Jahren entschied sich der „Michl aus Fuchsmühl“, seine vertraute Umgebung zu verlassen. Er wollte unbedingt ins 30 Kilometer entfernte Weiden ins Klosterinternat. „Ich war damals Ministrant. Mit unserem Pfarrer hatten wir mehrere Ausflüge dorthin gemacht“, blickt er zurück. Köllner war so begeistert von der großen Fußballhalle in dem Internat, dass er unbedingt dorthin wollte. „Ich dachte, da könnte ich jeden Tag Fußball spielen.“

Sein Vater, ein Lokführer, schärfte ihm ein, dass seine Entscheidung unumstößlich sei und er das Internat erst wieder verlassen dürfe, wenn er volljährig sei. Auch das konnte ihn damals nicht von seinem Entschluss abbringen. Es dauerte nicht lange, bis der Junge seine Entscheidung bereute. Das Leben im Klosterinternat war eine „harte Schule“, es herrschte „ein strenges Regiment“.

Bisher hat Michael Köllner, dieser extrovertierte „Erzähl-Mensch“, voller Begeisterung geredet. Jetzt wird er ernster. „Die Zeit im Internat war krass“, sagt er. „Wir teilten uns mit 400 Jungs ein Haus. Ich schlief mit 20 anderen Kindern im Zimmer, hatte ein Bett, einen Holzschemel, einen Spind und einen Schreibtisch. Draußen gab es ein Waschbecken mit kaltem Wasser.“ Wenn der junge Michael den Anweisungen der älteren Mitschüler nicht folgte, wurde er schon mal eine Stunde lang auf den hohen Spind gesetzt oder in den Papierkorb verfrachtet, aus dem er nicht mehr selbst herauskam.

Geschlagen wurde er auch im Internat. „Besonders schlimm waren die Schläge, die ich unvermittelt bekam“, erinnert er sich. Köllner: „Ich wurde auch zuhause nicht mit Samthandschuhen angefasst.“ Dennoch wäre er gern wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber sein Vater blieb hart. Er beharrte darauf, dass Michael das Internat bis zur Volljährigkeit durchzieht. „Ich nehme ihm das nicht übel, auch wenn mir das jahrelang nicht geschmeckt hat“, sagt Köllner heute. Die Internatszeit hat er nicht vorzeitig beendet. Es sei schwierig gewesen, aber er habe gelernt, Regeln zu akzeptieren und angefangene Dinge zu Ende zu bringen. „Wer A sagt, muss auch B sagen“, lautet daher eine seiner Lebensmaximen. Konsequenz ist ihm wichtig. Das prägt sein Verhalten. „Erst durch konsequentes Verhalten bin ich glaubhaft. Das erwarte ich auch von meinen Spielern. Sie müssen sich mit dem 1. FC Nürnberg identifizieren und nach den Regeln hier leben“, sagt der Coach.

Und noch etwas Gutes hatte die Zeit im Internat. „Die Bundeswehr im Anschluss war im Vergleich dazu ein Ferienlager“, lächelt er.

Der Glaube als Ruhepol

Das Leben im Internat veränderte sein Verhältnis zur katholischen Kirche. Als Ministrant war alles leicht, spielerisch, bunt gewesen. „In der Internatszeit bin ich etwas vom Glauben abgerückt“, erinnert sich Köllner. Über Bord geworfen hat er seinen Glauben nie. Der Glaube gehört zu seiner Identität. „Der christliche Glaube war für mich immer ein Ruhepol. Ich habe schon immer die Gottesdienste genossen. Hier habe ich Zeit für mich, kann abschalten und innerlich zur Ruhe kommen.“ Ihn inspiriere die Gemeinschaft oder das Lebensbild einzelner Gläubiger.

Seine Spieler wissen, wie ihr Trainer tickt. Im Sommer-Trainingslager in Südtirol ging Köllner mit seiner Mannschaft in eine gotische Kirche, die dem heiligen Stephanus geweiht ist. Dem Trainer geht es nicht darum, seine Spieler zu missionieren. „Aber der heilige Stephanus ist ein Vorbild. Ich muss ja nicht unbedingt einen hernehmen, der vier Oscars gewonnen hat. Bei Stephanus habe ich mit den Jungs darüber gesprochen: wo beginnt und wo endet Überzeugung?“ Der heilige Stephanus hatte sich als Diakon für Arme eingesetzt und wurde für sein Bekenntnis zu Christus gesteinigt. Er war der erste Märtyrer des Christentums.

Köllner ist kein typischer Fußballlehrer. Ihm geht es nicht nur um Technik, Taktik und Tore. Dabei hat er davon jede Menge Ahnung. Mehrere Sachbücher hat er dazu verfasst. Der 48-Jährige wirkt eher wie ein Lebenscoach. „Wenn ein Spieler das so wahrnimmt, dann habe ich nicht viel verkehrt gemacht“, schmunzelt er.

Ein Trainer als Lebenscoach

Fußballprofis verdienen eine Menge Geld. Die Bundesliga ist ein Milliarden-Geschäft. Die Helden in kurzen Hosen fahren schnelle Autos, haben attraktive Models an ihrer Seite, manche protzen in den sozialen Netzwerken mit ihrem Luxusleben. Wollen Fußballstars, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen, tatsächlich etwas von Gott hören?

„Ich gehe ja nicht in die Kabine, packe die Bibel aus, male fünf Kreuze an die Wand und sage ‚Hier bin ich!‘ “, antwortet Köllner. „Wir beten auch nicht das Vaterunser zum Einstieg, und ich nehme denen auch nicht die Beichte ab. Diese Dinge müssen aus der Situation heraus entstehen, weil man das Gefühl hat, der eine oder andere Spieler wünscht sich das.“

Fingerspitzengefühl. Sensibilität. Aufmerksamkeit. Michael Köllner weiß mit diesen Begriffen etwas anzufangen. Er lebt sie. Auch wenn er für sich auf manche Lebensfragen bereits Antworten gefunden hat; Köllner sieht sich immer noch als Suchenden. Und er weiß, dass auch seine Spieler Orientierung brauchen. „Meine Jungs haben viele Fragen, sie sehnen sich nach Leitplanken. Ich versuche, Antworten zu geben.“

Natürlich will er mit seiner Mannschaft am liebsten jedes Spiel gewinnen. Dafür müssen er, sein Trainerteam und jeder einzelne Spieler täglich Vollgas geben. Erfolg? Selbstverständlich gern, aber nicht um jeden Preis. „Es kann nicht sein, dass wir uns zu Tode knechten und nach zehn Jahren kann keiner, der hier raus geht, noch gerade laufen“, meint Köllner.

Das sagt ein Fußballtrainer, der genau weiß, wie das Geschäft läuft. Wer Erfolg hat – wie der 1. FC Nürnberg mit dem Aufstieg in die Bundesliga – wird von Vereinsführung, Fans und Sponsoren auf Händen getragen. Bleibt man hinter den Erwartungen zurück, ist man das schwächste Glied in der Kette. Der Trainer ist der erste, der bei Misserfolg entlassen wird. Im Hintergrund lauern vereinslose Kollegen, die nur darauf warten, einen der heißbegehrten 18 Bundesligatrainer-Stühle einnehmen zu können. Köllner kennt diese Gesetzmäßigkeit. Angst macht sie ihm nicht.

„Dann mache ich was anderes“

„Für mich war es nie ein Lebensziel, Bundesligatrainer zu werden“, betont er und verweist darauf, dass er früher vor allem im Jugendbereich gearbeitet hat. Erst im März 2017 wurde er beim 1. FC Nürnberg erstmals zum Coach einer Profimannschaft befördert. Köllner liebt seine Aufgabe, aber er klebt nicht an seinem Stuhl wie andere, die deshalb nicht laut sagen, was sie tatsächlich denken. Seine Augen funkeln hinter der dunklen Brille. Voller Überzeugung sagt er: „Wenn ich mein Leben an andere anpassen würde, wäre das kein schöner Lebensweg für mich. Ich wäre jetzt genauso glücklich, wenn ich die B-Junioren trainieren würde. Ich definiere mich nicht über den Bundesliga-Job. Wenn es mal vorbei ist, dann mache ich eben was anderes.“

Der Beruf ist nicht alles für den Oberpfälzer, auch wenn er immer „Top-Engagement und absoluten Einsatz“ von sich erwartet. Seine Familie ist ihm extrem wichtig, sein Freundeskreis ebenso. Er sagt, er sei „wunschlos glücklich“, so wie er momentan lebe. „Das Entscheidende ist, mit welchen Menschen du dich umgibst. Das verändert sich ja immer wieder. Das prägt und beeinflusst auch die Entfaltung der eigenen Identität. Aber sie wird im Laufe der Zeit klarer.“ Jeder Mensch benötige Leitplanken, an denen er sich orientieren kann, um für sich immer mehr Klarheit zu gewinnen, betont Köllner. „Viele Menschen haben keine richtige Identität mehr, sie sind hin- und hergerissen. Sie wirken orientierungslos. Da stellt sich die Frage: Wer liefert dann Führung? Wer hilft, die eigene Identität zu entdecken?“ Die Kirche jedenfalls liefere das heute nicht mehr, beklagt der Trainer. Da komme zu wenig. Köllner bedauert das.

Zentrale Frage: Wie erreicht man die Leute?

Er ist überzeugt: „Es sind zu wenig begeisterte Menschen in der Kirche aktiv. Das Kardinalproblem der Kirche ist doch nicht der Zölibat. Es fehlt an Lebendigkeit – auch in den Gottesdiensten.“ Es müsse mehr Leute geben, denen man anmerkt, dass sie wirklich für ihren Glauben brennen, meint er. Die Botschaft der Bibel sei doch „wahnsinnig attraktiv“. Nur werde sie häufig schlecht vermittelt. Wenn man Köllner reden hört, spürt man seine Begeisterung. Der 48-Jährige ist nicht nur ein Menschenfreund, sondern auch ein charismatischer Menschenfischer. Einer, der Lebendigkeit ausstrahlt. Eine Lebendigkeit, die er in der Kirche bisweilen schmerzlich vermisst.

Die Kirche müsse bei Auswahl und Ausbildung von Gottes Bodenpersonal professioneller werden, fordert er und vergleicht das mit dem Fußball. So wie bei einem Fußballklub eine Scouting-Abteilung Ausschau nach den größten Talenten halte, müsse die Kirche um die besten Leute werben. „Du musst diese Talente erkennen und fördern. Du musst dich fragen: sind das überhaupt die richtigen Leute, die die Priesterausbildung machen? Und: werden sie so gefördert, dass das Produkt durch sie wieder hochattraktiv wird?“ Wie man Fußball-Talente voranbringt, damit kennt Köllner sich aus. Mehr als zehn Jahre war er DFB-Koordinator für Talentförderung.

Auch Pfarrer müssten sich immer wieder fragen, wie sie die Leute erreichen können. Wie sie dazu beitragen können, dass es den Menschen gut gehe. So wie er sich als Trainer täglich überlege, wie er seine Spieler erreichen könne. „Es ist mein Anspruch, dass der Mensch, der mir da begegnet, glücklich ist“, sagt er. „Ich versuche, Impulse zu setzen oder Abläufe zu gestalten, die den Spielern guttun. Und wenn ich drei Mal einen Handstand machen muss.“

Von der Champions League in die Dritte Liga?

Köllner ist niemand, der Glaubensdinge und Profi-Fußball leichtfertig miteinander vergleicht. Als er nach dem ersten Bundesliga-Heimsieg seines Clubs im Stadion von einem Reporter euphorisch gefragt wird, ob es sich für ihn jetzt anfühle wie Weihnachten, antwortet er freundlich: vom Ursprung des Festes her, sei das ja wohl doch etwas völlig anders. Dennoch zieht Köllner einen Vergleich zwischen der Kirche und seinem Verein, dem 1. FC Nürnberg. Er will damit wachrütteln. Der „Club“, im Jahr 1900 gegründet, ist einer der größten Traditionsvereine Deutschlands. Mit neun Meistertiteln ist Nürnberg der zweiterfolgreichste Verein Deutschlands hinter Bayern München. Doch die letzte große Meisterfeier der Franken liegt weit zurück: vor 50 Jahren holte der „Club“ zuletzt den Titel. „Das ist wie bei der Kirche“, meint Köllner. „Sie glaubt auch immer noch, dass sie in der Champions League spielt. Dabei ist sie auf dem Weg runter in die 3. Liga.“ Die spannende Frage sei, wie man diese Entwicklung stoppen könne, ohne dabei seine Identität zu verlieren. Köllner fürchtet, dass innerhalb der Kirche zu viel Angst herrsche, Strukturen grundlegend zu verändern. „Vielleicht ist das schon dermaßen verfahren, dass man die Veränderung nicht mehr hinbekommt, ohne dass einem das Ganze mit riesigem Getöse um die Ohren fliegt.“

Nach dem Aufstieg: Urlaub auf den Spuren Jesu im Heiligen Land

Bei dem Thema sprudelt es aus dem Oberpfälzer nur so heraus. Man spürt: Der Mann brennt für den Glauben und macht sich Gedanken über die Zukunft der Kirche. Wie steht es mit seiner Zukunft? Was möchte er noch erleben und entdecken? Nach dem Bundesligaaufstieg des 1. FCN reiste Köllner „auf den Spuren Jesu“ nach Israel. „Das hat mich sehr beeindruckt und geprägt“, verrät er. „Als nächstes würde mich mal Tibet interessieren.“ Und dann sagt er noch: „Wenn andere am Ende über mich sagen, der war nicht so verkehrt in seinem Leben unterwegs, dann habe ich alles richtig gemacht.“

Der Mann scheint mit sich im Reinen zu sein.

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