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Ausgabe 03 Identität

Unauslotbar, wie die Liebe

Autor: Jürgen Liminski

Unauslotbar, wie die Liebe.

„Wer bin ich, wenn ich geboren werde?“

Ludwig Janus ist der Experte für vorgeburtliche Psychologie. GRANDIOS hat mit ihm gesprochen.
Seine Forschungsergebnisse sind richtungsweisend: Alle Erfahrungen sind gespeichert – auch die vor der Geburt.
Sie beeinflussen uns mehr als wir ahnen.

Ludwig Janus ist ein nachdenklicher und vorsichtiger Mann. Der Wissenschaftler wägt seine Worte ab, Erkenntnisse nennt er gesichert, wenn sie evident, ja nahezu mehrfach bewiesen sind. Und das ist in seinem Forschungsbereich, der Mensch vor der Geburt, nicht einfach. Der Psychotherapeut hat in den mehr als drei Jahrzehnten eigener Praxiserfahrung immer wieder erlebt, „dass vorgeburtliche und geburtliche Belastungen Langzeitwirkungen haben können und der Erfolg der Behandlung wesentlich von der Bearbeitung dieser Zusammenhänge abhängen kann“. Also sind alle Erfahrungen, auch die im Mutterleib, irgendwie gespeichert und fließen in das Leben ein? „Ja“, sagt er bedächtig, „keine Erfahrung wird je vergessen.“ Er hat diese Erkenntnisse in mehreren Büchern ins Wort gebracht. So gab er in dem Buch „Wie die Seele entsteht“ einen Überblick über die Pränatale Psychologie und in dem Buch „Der Seelenraum des Ungeborenen“ beschrieb er die Konsequenzen für die psychotherapeutische Praxis.

Wie ein Hintergrundfilm, der während des gesamten Lebens läuft

Die Welt vor der Geburt fasziniert den Universitätsdozenten nach wie vor. Nach vielen Jahren als Präsident der Internationalen Studiengemeinschaft für Pränatale und Perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) (www.isppm.ngo) spricht er heute von „Grundannahmen“. Es gebe „ein seelisches Erleben vor und während der Geburt; dieses ist in uns als eine Art Hintergrundfilm lebenslang lebendig; es beeinflusst insbesondere, wie wir uns in der Welt beheimaten und wie wir mit Veränderungen umgehen“. Mit anderen Worten: Die neun Monate im Mutterleib sind prägend für die Identität. Aber nicht nur des Einzelnen, sie prägen auch das kollektive Gedächtnis und Empfinden. Janus: „Die vorsprachlichen Erfahrungen vor und während der Geburt sind wesentliche Inhalte in unseren Mythen und der Kunst, wie ebenso in den Motivationen des gesellschaftlichen und geschichtlichen Geschehens, was ein wesentlicher Gesichtspunkt in der Psychohistorie ist.“

Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse erscheint eine Beobachtung aus einem Experiment amerikanischer Neurologen wie selbstverständlich. Die Wissenschaftler schlossen das Kind unmittelbar nach der Geburt an ein Messgerät und legten es dann in die Arme der Mutter. Sodann maßen sie die Hirnströme. Und siehe da, als das Kind in den Armen lag und die Mutter erblickte, kam Bewegung ins Hirn. Es ergaben sich Strömungen, die typisch sind für Glücksgefühle. Dann legte man das Kind in die Arme des Vaters, es wurde auch gemessen, aber es blieb bei einer Linie. Immerhin – es war kein Punkt. Das lässt hoffen. Alles zu seiner Zeit. In den ersten Jahren sind die Mütter näher dran.

Sie haben offenbar von Natur aus – im Einzelfall sieht das manchmal anders aus – mehr Herz, mehr Empathie, wie die Bindungs- und Verhaltensforscher sagen. Janus hört zu und lächelt: „Das kann man so sagen“, bestätigt er. Und die Geschichte geht weiter. Das neugeborene Kind weiß noch nichts, aber es ist glücklich. Es fühlt sich geborgen. Es fühlt sich geliebt. Bleibt diese Liebe aus, kommt es zu Ängsten, Barrieren des Glücks. Dann werden zwei erbsengroße Teile des Gehirns, die Mandelkerne, blockiert. Dort entstehen die Emotionen, mithin auch die Glücksgefühle. Offensichtlich hat das neugeborene Kind Emotionen, es hat Erfahrungen gemacht. Es sind keine kognitiven Erkenntnisse. Es kennt seine Identität noch nicht. Spürt, fühlt es, wer oder was es ist? Janus: „Auch das kann man so sagen. Das Kind spürt und fühlt die Beziehung zur Mutter, aber auf einer existenziellen Ebene, nicht auf der symbolischen Ebene, wo es ein Ich und eine vorgestellte Beziehung gibt“.

Angst, Stress, Gewalt: Erfahrungen im Mutterleib beeinflussen die Identität

Welche Erfahrungen sind prägend und ab wann? Janus, der Arzt und Psychologe ist, wägt jetzt nicht lange ab: „ Die Mutter ist die erste Lebenswelt des Kindes und in diesem Sinne grundsätzlich und von Anfang an prägend. Sie ist das Milieu, in dem sich das Kind entwickelt, und zwar in Relation zur Wirklichkeit der Mutter“. Dafür gebe es „zahlreiche Belege in der Stressforschung, in der Hirnforschung, in der Epigenetik (Fachbereich der Biologie, der die Faktoren untersucht, die die Aktivität der Gene beeinflussen, A.d.R.) nicht zu vergessen die Befunde aus verschiedenen psychotherapeutischen Settings“. Insofern seien die Erfahrungen der Mutter auch die Erfahrungen des Kindes. „Entwicklung und Selbstorganisation des Kindes vor der Geburt finden im Bezug zur Lebenswirklichkeit der Mutter und ihren Bedingungen statt.“

Empfindet der Embryo Gewalt oder auch Zärtlichkeit? „Ja, das Kind entwickelt sich im Milieu der Gefühle der Mutter, und deshalb empfindet es in diesem Sinne auch die von ihr ausgehende Gewalt oder Zärtlichkeit“. Denn nicht nur über die Nabelschnur, auch über seine Sinnesorgane sei der Fötus eng an die Gefühlswelt der Mutter angeschlossen. Janus: „Wenn sie Angst hat, schlägt ihr Herz schneller, ihre Blutgefäße verengen sich, die Gebärmutter zieht sich zusammen. Der Lebensraum des Fötus wird enger, der Sauerstoff in seiner Blutzufuhr knapp. Gleichzeitig dringen über die Nabelschnur Botenstoffe in seinen Organismus, die ihn biochemisch auf das Gefühl von Angst und Furcht programmieren. Auch das sind identitätsstiftende Erfahrungen.“

Gibt es Erkenntnisse darüber, ob der Zeugungsakt prägend ist, also ob Liebe, vielleicht sogar Gewalt eine Rolle spielen oder ist dieser Akt nur ein biologischer Vorgang? Immerhin führt er zu einer neuen genetischen Identität. Keine Erfahrung wird je vergessen – ist die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, die Zeugung nicht die erste Erfahrung des Menschen? Janus ist vorsichtig: „Hierzu gibt es nur Vermutungen, aber wahrscheinlich ist die Struktur des Lebendigen von Anfang an psychosomatisch. Wir Menschen sind ja nicht nur Materie, sondern auch Geist. Die Naturwissenschaft erfasst aber nur das Materielle, die Moleküle. Allerdings haben auch Moleküle eine geistige, seelische Seite“. Für die Identität sei aber auch die Geburt selbst schon prägend, meint Janus. „Die Geburt ist die Erfahrung eines Existenzwechsels. Dieser Wechsel von der vorgeburtlichen in die nachgeburtliche Lebenswelt ist ein erstes Abenteuer, eine erste Heldenfahrt. Die Bedingungen können prägenden Charakter haben, auch dafür gibt es wissenschaftliche Literatur, zum Beispiel Inés Brock ‚Wie die Geburtserfahrung unser Leben prägt‘ “.

Er selbst hat dazu ein Buch geschrieben mit dem Titel ‚Die pränatale Dimension in der Psychotherapie‘ und dabei auch auf die Bedeutung der Kommunikation hingewiesen. Der Mensch ist ein Kommunikationswesen: ohne Kommunikation mit anderen, insbesondere mit seinen Bezugspersonen, geht das Kleinkind im wahrsten Sinn des Wortes ein. Aber wann fängt die Kommunikation an? Manche Wissenschaftler sprechen wegen der engen bio-psycho-sozialen Beziehung zwischen Mutter und ungeborenem Kind schon von einem echten „Mutter-Embryo-Dialog“. Kann man tatsächlich bereits vor der Geburt mit dem Kind in Kontakt treten?

Ja, sagt der Grandseigneur der Pränatalforschung, „die Bindungsanalyse oder auch Förderung der vorgeburtlichen Mutter-Kind-Beziehung ist eine von den ungarischen Psychoanalytikern György Hidas und Jenö Raffai entwickelte Methode. Sie soll in der Tat Frauen in ihrer natürlichen Fähigkeit unterstützen, mit ihrem Kind im Mutterleib in einen inneren Kontakt zu treten. Es geht. Hidas und Raffai haben das auch in ihrem Buch, ‚Nabelschnur der Seele‘, wunderbar beschrieben.

Leihmutterschaft: Ein völlig unverantwortliches Abenteuer

Weniger behutsam ist der Wissenschaftler Ludwig Janus beim Stichwort Leihmutterschaft. Er bezeichnet sie als „wissenschaftliches Abenteuer“, das heute zwar möglich sei aber „in keiner Weise zu verantworten ist“. Denn das Kind „entwickelt sich und seine Identität ja von Anfang an im Gefühlsmilieu der Mutter“. Auch bei der aktuellen Diskussion um das dritte Geschlecht, das seit dem Spruch des Bundesverfassungsgerichtes juristisch existiert, gibt Janus zu bedenken: „Das ist eine sehr schwierige und komplexe Frage. Hier spielen mit Sicherheit psychologische und biologische Gegebenheiten zusammen. Bei der Homosexualität gibt es wissenschaftliche Hinweise darauf, dass vorgeburtlicher Stress das Gleichgewicht der Sexualhormone stört und die Gehirnentwicklung in eine weitere Richtung steuert, Günter Dörner hat dazu in seinem Aufsatz ‚Die Bedeutung der hormonabhängigen Gehirnentwicklung und der früh- und postonatalen Psychophysiologie für die Präventivmedizin‘ (im Sammelband ‚Die Begegnung mit dem Ungeborenen‘), geschrieben. Die Lobby der Homosexuellen hat sich aber vehement gegen diese Befunde gesperrt.“ Embryo und Säugling würden indes durchaus weiblich oder männlich empfinden, „vieles spricht dafür, dass das geschlechtstypische Empfinden schon vor der Geburt beginnt“.

Der Embryo kennt noch kein bewusstes Ich. Aber er kennt sensuell die Mutter, er riecht, schmeckt, hört sie. Welche Sinne sind für die Identität ausschlaggebend? Janus: „Wie Sie sagen, basiert das urtümliche, existenzielle Selbstgefühl des Kindes ganz auf seinen Empfindungen und Gefühlen. Ein Selbstgefühl in unserem Sinne bildet sich aber erst auf der symbolischen Ebene aus, beginnend im zweiten Lebensjahr“. Bis dahin gehe die Identität des Kindes sozusagen mit der Identität der Mutter konform, man spricht von der Dyade, der Zweiheit. Natürlich spiele auch der Vater eine Rolle, direkt und indirekt. Seine Präsenz zum Beispiel vermittele jene Sicherheit, die über die Mutter auf das Kind ausstrahle und so emotionale Stabilität schaffe, aus der heraus sichere Bindung entstehen kann.

Gefühle sind die Architekten des Gehirns und unserer Identität

Ein Pionier der Bindungsforschung, der amerikanische Kinderarzt Stanley Greenspan sagt: „Emotionen sind die Architekten des Gehirns.“ Sind die Sinne also die Architektur der ersten Identität? Janus stimmt zu: „Ja, das entspricht auch den Befunden der modernen Hirnforschung, so wie sie Thomas Verny in seinem Buch ‚Das Baby von morgen‘ einmal zusammengefasst hat.“ Der amerikanische Hirnforscher hat darin beschrieben, dass das Hirn des Babys bis zum dritten Geburtstag eine wahre Synapsenfabrik ist. Die meisten Gehirnzellen, die der werdende Mensch im späteren Leben brauchen wird, entstehen schon in der ersten Schwangerschaftshälfte. In Spitzenzeiten bilden sich eine halbe Million Nervenzellen pro Minute. Mit drei Jahren hat das Gehirn des Babys 1000 Billionen Synapsen oder Verschaltungen, doppelt so viele wie sein Kinderarzt. Denn das Gehirn baut im Lauf der Jahre auch Synapsen ab, wenn es sie nicht gebraucht. Und die großen Vernetzer sind die Emotionen, die beständige Zuwendung. Thomas Verny fasst zusammen: „Liebevolle, aufmerksame und verständige elterliche Fürsorge ist entscheidend. Wenn wir uns danach sehnen, dass das Gute über das Böse siegt, dann müssen wir endlich lernen, unseren Materialismus durch Mütterlichkeit zu ersetzen“.

Identität ist auch eine Frage der Umstände und deshalb auch einem Wandel unterworfen. Gibt es einen unwandelbaren Kern der Identität, der von der Zeugung bis zum Tod reicht? Auch hier stimmt Janus zu: „Ja, es gibt diesen Kern. Die genetische Prägung ist der Hintergrund für diesen unwandelbaren Kern, der sich aber im Milieu der Mutter vor der Geburt und nach der Geburt in der Elternbeziehung ausformt. Natürlich ist die Qualität der Paarbeziehung der Eltern wiederum der Hintergrund für die vorgeburtliche Mutter-Kind-Beziehung“. Und der unwandelbare Kern, kann man ihn definieren? Janus: „Es ist, wenn Sie wollen, die Seele. Ein Geheimnis, das nicht wirklich auslotbar ist, so wie die Liebe.“