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Autor: Josef Kraus | Illustration: Carina Crenshaw

Schön & schmerzlich

Was die Weisheit der Sprache über die Sehnsucht verrät

In Zeiten von „anything goes“, „Genuss sofort“ und „Genuss ohne Reue“ hat Sehnsucht oftmals ausgedient. Sie scheint altmodisch, vorgestrig, aus der Mode gekommen. Etwas für Träumer. Für Gedichteschreiber. Für Lyrikleser.

Heute kann man vermeintlich alles sofort haben: alle Dinge des Lebens inklusive Speisen, Getränke, Kleidung, Tickets, Autos, Reisen… Auch Claqueure kann man auf der Suche nach Zuwendung schnell haben – etwa über die „sozialen“ Medien. Liebschaften und „Dates“ stehen schnell parat. Selbst über darauf spezialisierte und geschäftstüchtige Partnerorganisationen. Alle fünf Minuten verliebt sich ein Paar über „Paarshop“. „Rent a Friend!“ Oder so ähnlich. Um sich ebenso schnell wieder zu „entfreunden“ und frei zu werden für das nächste flüchtige Abenteuer.

Sehnsüchtig auf etwas warten, sich sehnen nach etwas oder jemandem, Tage, Wochen, Jahre, gar ein Leben lang: Nein, das scheint überholt. Das kannten schmachtend vielleicht noch unsere Groß- und Urgroßeltern, ehe sie sich verloben und sich dann verheiraten durften. Das kannten vielleicht noch die weit in die Welt hinaus Gewanderten, wenn sie an ihre Heimat dachten. Das kennen sicher diejenigen in vielen Ländern der Welt, die sich einmal sattessen möchten.

Aber heute und hier im wohlhabenden Westen der Welt? Da kann man alles sofort haben, sofern man es sich leisten kann.

Und doch ist derjenige, der sich nach nichts sehnt, der sich nach nichts sehnen kann, ein verarmter Mensch.

Die Weisheit der Sprache gibt uns einen Fingerzeig, was „Sehnsucht“ seit vielen Generationen meint

zugleich ein „Sehnen“ und eine „Sucht“. Sehnen heißt: etwas haben, erreichen, besitzen, sich einverleiben wollen. Das „Sehnen“ ist wohl zurückzuführen auf das mittelhochdeutsche „senen“ = sich härmen, liebend verlangen. „Sucht“ – abgeleitet nicht von „suchen“, sondern vom mittelhochdeutschen „siech“ (= krank) meint: im Sehnen schier krank werden.

„Sehnsucht“ gehört zum Gefühlshaushalt aller Menschen

Ohne Sehnsucht ist kein Innenleben denkbar. Entsprechend gibt es dafür auch in wohl allen Sprachen dafür Wörter – durchaus mit etwas anderen Nuancen: desiderium (lateinisch), longing, desire, craving (englisch), désir, impatience de faire (französisch), bramosia, languore (italienisch).

Sehnsucht kann konstruktiv & destruktiv sein

Konstruktiv als Antrieb, auf etwas hinzuarbeiten, zuversichtlich auf etwas zu hoffen. Und als Impuls, zufrieden zu sein, wenn man das Ziel nicht erreicht. Dann dennoch „zufrieden“ zu sein – mit sich im Reinen, mit sich im Frieden. Sehnsucht aber auch als etwas Pathologisches? In überzogener, monomanischer Form, als schiere Gier ja. Begriffe wie Fresssucht, Sexsucht, Rauschsucht und dergleichen bringen das Kranke klar zum Ausdruck.

Sehnsucht gibt es im Singular als nebulöses, vom Ziel her kaum definiertes Gefühl

Ich habe Sehnsucht und weiß gar nicht wonach. Sehnsucht gibt es aber vor allem im Plural, als Sehnsüchte nach ganz unterschiedlichen, meist gegenstandslosen, namenlosen Zuständen: nach Nähe, Geborgenheit, Genesung, Zuwendung, Stille, Alleinsein, Nicht- Alleinsein, Geliebtwerden, Erotik, Sex, Jungsein, Luxus, Erfolg im Beruf, einfachem Leben, Heimweh, Gott …

Fernweh, auch das ist Sehnsucht.

Sehnsucht nach dem Fernen, dem Entrückten. Müsste eigentlich Fernsucht heißen. Aber es ist eine sehr kreative Wortschöpfung. Weil das Sehnen nach Ferne, Abstand, Neuem, Fremdem, Ausbrechen eben auch schmerzen, „weh“-tun kann.

Im bayrischen Dialekt gibt es die Redensart „Ich habe Zeitlang nach dir gehabt.“

Ein im Sinne von Weisheit der Sprache wunderbares Wort, weil es Sehnsucht in Verbindung bringt mit zuversichtlichem Geduldhaben über eine lange Zeit des Wartens.

Sehnen nach Melancholie

Ja, Sehnsucht gibt es auch als ein Sehnen nach Melancholie, Traurigsein, Grübeln, ja gar als Todessehnsucht.

Hier wendet sich ein Sehnen autoaggressiv nach innen. Wehmut gehört hierher, ebenso wie Nostalgie: das Gefühl der Entwurzelung, verbunden mit der Sehnsucht nach dem Vergangenen, einhergehend mit dessen Idealisierung. Auch hier, bei der Nostalgie, steckt der Schmerz im Wort: Der Wortstamm ist das griechische Wort „álgos“ (ἄλγος), und das heißt wörtlich Schmerz.

Sehnsucht ist ein zentrales literarisches und künstlerisches Motiv.

Erstmals wohl belegt bei Ovid, der im Jahr 17 nach Christus ans Schwarze Meer in die Gegend des heutigen Constanza verbannt war, unter „Heimweh“ litt und sich nach Rom zurücksehnte. „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.“ Diese Gedichtzeile findet sich im 11. Kapitel von Goethes Bildungsroman „Wilhelm Meister“. Goethe war es auch, der „das Land der Zitronen mit der Seele“ suchte. Auch andere kamen nicht am Motiv „Sehnsucht“ vorbei. Siehe die Gedichte „Sehnsucht“ von Schiller oder Schillers „Lied von der Glocke“, in dem „zarte Sehnsucht“ als ein „süßes Hoffen“ beschrieben wird. Oder siehe „Selige Sehnsucht“ von Goethe, „Sehnsucht“ von Eichendorff, „Das ist die Sehnsucht“ von Rilke. Siehe viel später „Endstation Sehnsucht“ von Tennessee Williams (1947, verfilmt 1951). Siehe auch die ungezählten Hits und Schlager, in denen es um Wehmut, Sehnen und Sehnsucht geht.

Sehnsucht hat eine gewaltige psychische Energie – oszillierend zwischen melancholischem Gedulden und bloßer Innerlichkeit einerseits sowie als dynamische Triebfeder und ungeduldiges Drängen andererseits. Letzteres kommt in aggressiver Wendung zum Ausdruck, wenn enttäuschte Liebe, enttäuschte Sehnsucht sich in Hass und Rachegefühle verkehrt.

Sehnsucht nach dem Vergangenen? – Ja, auch das ist Sehnsucht, sogar eine starke Sehnsucht, die Menschen vor allem mit zunehmendem Alter prägt. Nicht weil früher alles besser gewesen wäre, sondern weil sie darunter leiden, dass die nachwachsende Generation möglicherweise den Verlust des Verlustes nicht einmal mehr spürt.

Kluge Aphoristiker haben Sehnsucht zu erfassen versucht. Friedrich Nietzsche hat den Begriff „Pfeil der Sehnsucht“ geprägt, um die (meist erfolglose) Zielstrebigkeit von Sehnsucht bildhaft zu beschreiben. Sehnsucht ist für Nietzsche ein dunkler und zugleich verführerischer Restschatten, wenn Leidenschaft nachgelassen hat. Marie von Ebner-Eschenbach schreibt: „Nicht die sind zu bedauern, deren Sehnsüchte nicht in Erfüllung gehen, sondern diejenigen, die keine mehr haben.“