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Ausgabe 04 Freiheit

Trotz Neuronen und Schablonen – Mach dein Ding!

Lesedauer: ca. 11 Min.

Autor: Tobias Liminski | Portraitfotografie: Bayerischer Rundfunk

Trotz Neuronen und Schablonen
– Mach dein Ding!

Hirnforscher behaupten, der freie Wille sei eine Illusion. Wir würden durch unser Gehirn gesteuert. Stimmt das?
Wie kommt man darauf? Und welche Folgen hätte das? Natur- und Religionsphilosoph Dr. Tobias Müller hat sich unseren Fragen gestellt.

- GRANDIOS

Herr Dr. Müller, Menschen treffen Entscheidungen – im Kleinen wie im Großen: Welchen Kaffee trinke ich heute? Nehme ich den Bus oder fahre ich mit dem Rad? Was unternehme ich heute Abend? Welchen Beruf möchte ich ausüben? Wen heirate ich? In all diesen Entscheidungen sind wir frei. Oder etwa doch nicht?
Immer wieder heißt es: „Das stimmt so gar nicht! Der Eindruck täuscht!“ In Wirklichkeit sei der Mensch nicht frei, sondern von seinem Gehirn gesteuert. Wie kommt es zu dieser Auffassung?

DAS STIMMT SO GAR NICHT

- DR. TOBIAS MÜLLER

Der große Erfolg der Naturwissenschaften hat dazu geführt, dass die Naturwissenschaften diese Vorstellungen und Annahmen unserer Gesellschaft prägen. So hat sich die Überzeugung entwickelt, alles Wirkliche könne von den Naturwissenschaften erfasst werden. Wenn aber alles naturwissenschaftlich erklärt werden kann, entsteht der Eindruck, die gesamte Wirklichkeit sei determiniert. Das heißt, alles sei durch materielle Strukturen vollständig bestimmt. Das gilt auch für den Menschen. Der Mensch ist dann nicht mehr frei. Er trifft keine freien Entscheidungen mehr, sondern wird durch die neuronale Struktur seines Gehirns festgelegt.

Wenn der Mensch nicht frei entscheidet, sondern nur auf neuronale Vorgänge reagiert, hat das weitreichende Folgen.

Völlig richtig. Diese Vorstellung kennt keine Freiheit. Damit gibt es auch keine Verantwortung. Denn es fehlt ein wesentliches Charakteristikum der Freiheit: Die Möglichkeit, auch anders handeln zu können. Freiheit bedeutet ja, dass ich wählen kann, dass ich mich so oder auch anders entscheiden kann. Ich habe die Freiheit, mich zu entscheiden. Diese Freiheit gäbe es nicht, wenn in Wirklichkeit nur die Neuronen das Sagen hätten. Dann wäre alles, was wir für unsere freien Entscheidungen halten, durch neuronale Schaltungen im Gehirn vorherbestimmt.

Gibt es naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die das nahelegen?

Diese Auffassung ist inspiriert durch die Physik des 19. Jahrhunderts. Damals dominierten deterministische Theorien wie die Newtonsche Mechanik. Deren Beschreibungen sind aber nur für bestimmte Teilbereiche der Wirklichkeit und unter idealisierten Umständen gültig. Wir haben heute in der Physik – auch dank der Einsichten der Quantenphysik – ein anderes Bild vom Universum. Wir leben in einem Universum, in dem es keine strikten Determinationen gibt, sondern Wirkungszusammenhänge, die aber formbar sind und im Falle von menschlichen Handlungen kreativ verändert werden können.

Unter denen, die behaupten, es gäbe keinen freien Willen, beruft man sich aber auch heute noch auf die Neurowissenschaften. Auf welche neurowissenschaftlichen Erkenntnisse kann man sich dabei stützen?

In den 1980er Jahren gab es mehrere Experimente des Neurophysiologen Benjamin Libet. Versuchspersonen sollten in einer bestimmten Zeit den Finger heben. Es stellte sich heraus, dass bereits Gehirnaktivität messbar war, bevor in den Probanden der Wunsch entstand, ihre Finger zu heben. Manche Neurowissenschaftler folgerten daraus, dass unser subjektives Erleben nur ein „neuronales Echo“ sei. Freiheit wäre demnach eine „neuronale Illusion“. Nicht die Person würde eine Entscheidung treffen, sondern ihr Gehirn würde die Entscheidung sozusagen vorwegnehmen.

IN DEINEM KOPF ENTSCHEIDEST DU

Ist diese Interpretation nicht zwingend?

Nein, das ist sie nicht. Es gab in der Folge eine Reihe intensiver Diskussionen dieser Ergebnisse. Manche Neurowissenschaftler beziehen sich noch immer auf diese deterministische Lesart. Aber die Mehrheit der Fachleute ist heute davon überzeugt, dass die Forschungsergebnisse eine solche Schlussfolgerung nicht zulassen. Heute geht man davon aus, dass diese Gehirnaktivität immer dann entsteht, wenn eine Person weiß, dass sie bald eine Bewegung ausführen muss. Das Gehirn bereitet sozusagen eine Bewegung vor. Das heißt: Das Gehirn entscheidet nicht. Es nimmt auch keine Entscheidung vorweg. Es stellt uns lediglich bestimme Muster zur Verfügung. Gegen eine Interpretation, die dem Menschen die Freiheit abspricht, spricht überdies noch ein grundlegenderes Argument: Die Rationalität der Wissenschaft.

Wie meinen Sie das? Inwiefern spricht eine der Vernunft verpflichtete Wissenschaft für die Freiheit?

Wenn Wissenschaft rationale, also vernunftgemäße Erkenntnisse zutage fördern soll, setzt das voraus, dass der Wissenschaftler nicht von sachfremden Faktoren – etwa dem „blinden Feuern der Neuronen“ – bestimmt wird. Der Wissenschaftler muss sich in seinem experimentellen Handeln und seinem Schlussfolgern an rationalen Normen orientieren können und diese noch einmal kritisch hinterfragen. Das kann er aber nur, wenn die Welt nicht determiniert ist und er das Vermögen des Anderskönnens besitzt.

„Vermögen des Anderskönnens“? Das klingt kompliziert. Was verstehen Sie darunter? Und was hat das mit Freiheit zu tun?

Dieses „Anderskönnen“ ist aus philosophischer Sicht das grundlegende Wesensmerkmal von Freiheit. „Anderskönnen“ bedeutet, dass wir uns – unter denselben Bedingungen – auch anders hätten entscheiden können. Wir sind eben nicht vollständig fremdbestimmt durch andere Faktoren. Sei es durch neuronale Vorgänge in unserem Gehirn oder beispielsweise durch unsere Erziehung. Sicher, unsere Erziehung prägt uns. Aber das nimmt uns nicht die Freiheit, dazu Stellung zu nehmen, auch wenn das ein langer Prozess sein kann. Wir können uns das bewusst machen, darüber nachdenken, Umstände kritisch hinterfragen und auf unterschiedliche Weise dazu Position beziehen. In dem Moment, in dem wir das tun, machen wir Gebrauch von unserer Freiheit.

EINFLÜSSE UND DIE KRAFT DER KRITIK

Nun werden wir aber täglich auf verschiedenste Weise beeinflusst, auch ohne dass uns dies immer bewusst ist. Etwa durch Werbung, das Internet, die sozialen Medien oder auch durch unseren Freundeskreis. Kann man da wirklich davon sprechen, dass wir vollständig frei in unseren Entscheidungen sind?

Gegner der Freiheit benutzen dieses Argument, um zu behaupten, dass es keine Freiheit geben kann. Sie sagen, wir seien ja nie absolut frei – im Sinne von vollständig unbeeinflusst. Das sollte sinnvollerweise auch niemand behaupten. Natürlich sind wir als Menschen von vielen Dingen beeinflusst: Sozialisation, Erziehung, Erfahrungen und so weiter. Aber Freiheit im Sinne von Anderskönnen meint die Fähigkeit, sich eben nicht von diesen Einflüssen ganz bestimmen zu lassen, sondern kritisch dazu Stellung nehmen zu können. Wir können uns in der Regel – von pathologischen, also krankhaften Fällen abgesehen – zu all diesen Gegebenheiten verhalten. Das sieht ja auch unser Rechtssystem und die forensische Psychiatrie so.

Würden Sie sagen, es gibt unterschiedliche Grade von Freiheit?

Ja, so würde ich das sehen. Es gibt psychisch kranke Menschen, deren Möglichkeit, sich frei zu entscheiden, sehr eingeschränkt sein kann. Abgesehen von pathologischen Situationen, in denen ein Mensch nicht mehr frei handeln kann, müssen wir alle lernen, unser Freiheitspotenzial auch gegen Widerstände zu verwirklichen. Das ist keineswegs immer leicht und eine bleibende Herausforderung. Voraussetzung dafür, das eigene Freiheitspotenzial ausschöpfen zu können, ist eine entsprechende Persönlichkeitsentfaltung.

Manchmal liegen solche Widerstände offenbar in uns selbst. Ein simples Beispiel: Nehmen wir an, wir entscheiden uns dazu, mehr Sport zu treiben. Wir wollen das wirklich, weil wir wissen, dass es uns gut tut. Dann ist Samstagnachmittag, die Sonne lacht und der Liegestuhl lockt verführerisch. Am Ende verliert der Wille zum Sport. Wir liegen in der Sonne und genießen einen kühlen Caipirinha. Was ist da passiert? Konkurrieren zwei unterschiedliche Willen miteinander? Warum verliert der Wille zum Guten? Können Sie uns das erklären?

Als lebendige Wesen sind wir immer schon auf vielfache Weise in unseren Lebensvollzug eingebettet, haben bestimmte Erfahrungen gemacht und Vorlieben ausgebildet und damit auch bestimmte Widerstände in uns. Wenn wir in konkreten Situationen Entscheidungen treffen, dann spielen diese Faktoren natürlich eine Rolle. Wir lassen uns dann von unterschiedlichen Bedürfnissen und Motivationen bei unserer Entscheidung leiten, was dazu führen kann, dass auch höhere Ziele wie unsere Gesundheit manchmal zurückgestellt werden.

Freiheit bedeutet immer auch die Möglichkeit, mit einer Entscheidung falsch zu liegen, Fehler zu machen oder zu scheitern. Wäre es da nicht eine reizvolle Vorstellung, ein Computer mit künstlicher Intelligenz könnte mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, welchen Beruf ich ergreifen soll, welchen Partner ich wählen soll…? Wäre das gewissermaßen die Optimierung von Freiheit?

Mit der Freiheit ist immer auch die Möglichkeit gegeben, Fehler zu machen. Das ist sozusagen die negative Kehrseite der Medaille. Die positive Seite besteht darin, dass wir aus uns selbst heraus existenzielle Entscheidungen treffen und unser Menschsein in kreativer Weise verwirklichen können. Weil wir frei sind, sind wir auch verantwortlich für das, was wir tun oder lassen. Unsere existenziellen Entscheidungen künstlicher Intelligenz zu überlassen, würde bedeuten, freiwillig die eigene Freiheit aufzugeben. Das ist definitiv keine Optimierung von Freiheit, sondern bedeutet den Verlust von Freiheit. Da sollten wir sehr aufpassen!

Könnte uns künstliche Intelligenz bei unseren freien Entscheidungen zumindest helfen? Beispiel Dating-Plattformen: Da wird versprochen, einen Partner mit „perfekter Übereinstimmung“ zu finden, und zwar besser als ich selbst ihn finden könnte. Tatsächlich könnte ich so viele Leute niemals überblicken und so viele Informationen vergleichen. Das kann eine Dating-Plattform besser.

Künstliche Intelligenz ist ein Werkzeug, das wir für bestimmte Zwecke einsetzen und in Zukunft immer mehr einsetzen werden. Aber man muss sich immer vor Augen halten, dass auch KI-Systeme immer aufgrund von vorgegebenen abstrakten Regeln und Trainings bestimmte Datenmuster aus riesigen Datenmengen filtern. Aber auch dabei – das zeigen immer wieder Beispiele aus der KI-Forschung – unterlaufen diesen Systemen Fehler. Man braucht also noch nicht mal Freiheit, um Fehler zu machen.

Man sollte sich also nicht auf die Fähigkeiten von KI-Systemen verlassen?

Es gibt Bereiche, zum Beispiel in der Analyse von Aktienkursen oder in der medizinischen Diagnostik, da sind die Fähigkeiten der KI-Systeme sehr hilfreich. Aber bei existentiellen Entscheidungen ist Vorsicht geboten. Denn KI-Systeme bearbeiten die ihnen gestellten Aufgaben nach ganz abstrakten Mustern und Korrelationen. Nur weil es dort bestimmte statistische Korrelationen gibt, heißt das nicht, dass das die qualitativ beste Lösung für meine Lebenssituation sein muss.

Warum? Weil KI-Systeme keine Gefühle haben, weil sie nicht empathisch sind?

Genau. KI-Systeme besitzen eine gewisse Lernfähigkeit, aber sie sind letztlich Computer, bei denen es darum geht, bestimmte Daten nach abstrakten Regeln zu verarbeiten. Sie empfinden nichts und können auch nicht im menschlichen Sinne denken. Wenn Sie beispielsweise dem Computer sagen, dass Geld bei Ihrer Berufswahl eine große Rolle spielt, wird er Ihnen entsprechende Vorschläge machen. Er kann aber nicht wissen, ob sie das wirklich glücklich macht. Abgesehen davon, dass er Glück nicht nachempfinden kann, sind nunmal nicht alle Aspekte der Wirklichkeit formalisierbar. Freiheit ist eben deshalb für uns Menschen so wichtig, weil sie uns ermöglicht, wirklich selbstbestimmt und damit auch selbstverantwortlich unser Leben zu führen.

DAS IST FREIHEIT

Wie verhält es sich dann mit Gott? Christen beten im Vaterunser: „Dein Wille geschehe“. Steht der Glaube damit nicht der persönlichen Willensfreiheit im Weg? Wenn Glaube bedeutet, dem Willen Gottes zu folgen, kann man als gläubiger Mensch dann überhaupt frei sein?

Das kommt darauf an, was man sich unter dem Willen Gottes vorstellt. Ich muss nicht annehmen, der Wille Gottes würde mich in irgendeiner Weise determinieren oder zu etwas zwingen. Ich darf vielmehr davon ausgehen, dass Gott möchte, dass ich ein gelingendes Leben habe. Der Mensch ist frei. Gott zwingt ihn zu nichts. Er will, dass das Leben des Menschen gelingt. Deshalb möchte er ihn zum Guten führen, zu einem gelingenden Leben. Philosophisch ausgedrückt: Gott ist der Horizont der Möglichkeiten. Er eröffnet mir Möglichkeiten und lädt mich zu einem gelingenden Leben ein. Ich kann das annehmen, aber auch ablehnen. Das ist Freiheit.