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- Autor: Stephan Baier
- Fotos: Bernhard Spoettel
Ein Urvertrauen ist dem Menschen in die Seele eingraviert - Das Interview mit Elisabeth Lukas
GRANDIOS: „Vertrauen ist der Anfang von allem.“ Das war mal der Werbespruch einer Bank. Stimmt das? Ist Vertrauen der Anfang von allem?
ELISABETH LUKAS: Der Mensch bringt diese Fähigkeit genauso wie die Fähigkeit zu atmen schon mit auf die Welt. Ein neugeborenes Baby ist hilfloser als jedes Tierbaby. So gründet das Dasein eines menschlichen Babys vom ersten Atemzug an in dem Vertrauen, dass Hilfe da ist und da sein wird. Die einzige Art, wie ein Baby signalisieren kann, dass es Hilfe braucht, ist zu weinen. Nun ist das menschliche Baby dank seiner Großhirnrinde lernfähig. So lernt es, dass Hilfe kommt, wenn es Hilfe braucht. Es gewinnt die Sicherheit, dass ihm geholfen wird. Das nennt man Geborgenheit. Eine reichhaltige Kommunikation mit dem Kind trägt dazu bei, dass es sich integriert fühlt in ein Milieu, dem es zugehört und trauen kann. Dass es ein Zuhause hat, das ihm in jeder Lage beisteht.
Von Natur aus sind die meisten Kleinkinder erstaunlich robust und situationselastisch. Körperlich wie psychisch halten sie im Regelfall viel aus, auch Elternfehler und Elternlaunen, sofern nicht tiefgreifende Schädigungen mitbeteiligt sind. In jungen Jahren ist Konstanz ein wichtiges Element zur Ausbildung des Sicherheitsgefühls. Unruhe, Hektik, Hin- und Hergerissensein und abrupte Umgebungswechsel irritieren Kinder. Ein Kind lernt zwar bald, dass verschiedene Bezugspersonen unterschiedliche Mentalitäten und Verhaltensweisen haben, aber ein und dieselbe Bezugsperson sollte nicht zu wechselhaft und widersprüchlich erscheinen. Es erschreckt ein Kind, wenn die Mutter einmal schmeichelnd freundlich, dann wieder zornig aufbrausend ist.
Besonders schlecht sind hysterische Ausbrüche und Gewalt. Unkontrollierte Gefühlsausbrüche bei Bezugspersonen lehren die Kinder, dass sie wie auf einem Vulkan sitzen und ständig auf Schlimmes gefasst sein müssen. Das unterhöhlt ihr Vertrauen und liefert ein gefährliches Vorbild, das lange nachwirkt. Stabile Familienverhältnisse und Erziehungspersonen mit stabilem Charakter und großer Verlässlichkeit sind vertrauensbildende Stützpfeiler für die Heranwachsenden.
Ein Kind kommt nicht als ,leere Tafel‘ zur Welt, auf die dann die Welt, sprich ihre Eltern und Lehrer, hineinschreiben, was aus diesem Kind wird.
Elisabeth Lukas

Familie der Ort höchstmöglicher irdischer Geborgenheit
Ein Kind kommt nicht als „leere Tafel“ zur Welt, auf die dann die Welt, sprich ihre Eltern und Lehrer, hineinschreiben, was aus diesem Kind wird. Nein, ein Kind bringt schon eine Fülle an Erbanlagen mit, und nicht nur erfreuliche. Aber weder Erbgut noch Umwelteinflüsse formen die ganze Geschichte des Menschen. In jedem Neugeborenen schlummert die geistige Person. Jeder Mensch ist einzigartig in seinem Wesen, unvertretbar und unwiederholbar. Was macht ihn dazu? Sein Selbstgestaltungspotenzial! Von Anbeginn an ist jedes Kind eine eigene Persönlichkeit und reagiert auf seine persönliche Weise auf das Milieu, in dem es aufwächst. Kinder können allerhand tun! Sie können sich von negativen Modellen distanzieren, über ihre Traumata hinauswachsen, die in ihnen liegenden Talente kreativ verwenden und ihre tristen Erfahrungen zu einer Erfahrungskompetenz verdichten, die sie warnt, wie Leben misslingt, und die sie anfeuert, es besser zu machen als ihre Eltern und Ahnen. Keine Generation muss die Fehler früherer Generationen wiederholen.

Veränderung von Urvertrauen durch Missbrauch und Enttäuschung
Wir leben in keiner heilen Welt, aber wer unbeirrt Ausschau hält nach dem Wertvollen, Liebenswerten und Erhaltenswerten in ihr, wird ohne Zweifel reichlich fündig werden.
Elisabeth Lukas

Entstehung von Urvertrauen
Beim Selbstvertrauen geht es um eine angemessene Realitätseinschätzung der eigenen Ressourcen. Bei der Selbstunterschätzung bleibt man bedauerlicherweise unter seinem leistbaren Höhenflug, bei der Überschätzung stürzt man im überzogenen Höhenflug ab. Psychotherapeuten möchten ihre Klientel vor beiden Gefahren bewahren, wobei sie es eher mit den depressiven, zögerlichen, wankelmütigen Personen zu tun haben. Ein ausgeprägtes Selbstvertrauen spendet auch die Sicherheit, dass eigene Entscheidungen ausgeführt und umgesetzt werden, was mit seelischer Gesundheit und Zufriedenheit korreliert. Es gibt nämlich die krisenträchtige Tendenz zu „Lippenentscheidungen“, die ständig in der Schwebe hängen. Daran kranken viele Menschen. Sie nehmen sich etwas vor, handeln aber nicht danach. Wer sich etwas vornimmt, aber dann kneift, gelangt bald zur Ichbewertung: „Ich tauge nichts! Auf mich ist kein Verlass!“ Das deprimiert und drückt das Selbstvertrauen in den Keller.
Vertrauen in Gott
In tausenden Therapiegesprächen habe ich beobachtet, dass sich die Bilder, die sich Menschen entwerfen, auffallend ähneln. Ist ihr Selbstbild verfinstert, so ist es auch ihr Menschenbild, ihr Weltbild und ihr Gottesbild. Sie halten von sich nicht viel, verachten ihre Mitmenschen, bespötteln die Welt, und sollten sie eine Gottheit in Erwägung ziehen, dann ist es ein strafender Götze.
Umgekehrt erstrecken sich auch optimistische Bilder vom Selbst über die Mitwelt bis hin zu einem gnädigen Gott. Es ist, als würden Menschen im Lauf ihres Lebens eine Art „Leinwand“ ausrollen, auf die sie später sämtliche Ereignisse projizieren. Ist es eine blütenweiße „Leinwand“, dann leuchten ihre Erlebnisse darauf bunt auf, und sogar düstere Erlebnisse haben noch ihre glänzenden Tupfer. Ist es eine dunkelgraue „Leinwand“, dann verschatten sich ihre sämtlichen Erlebnisse, und nicht einmal die Highlights liefern Grund zum Jubeln.
Wird etwa ein Mann beruflich befördert, aber seine „ausgerollte Leinwand“ ist von eingedunkelter Kategorie, dann denkt er an Neid, Missgunst, Rivalität und lästige Zusatzaufgaben, die ihm diese Beförderung einbringen wird. Wird einem Mann beruflich gekündigt, aber seine „ausgerollte Leinwand“ ist von lichter Kategorie, dann tröstet er sich mit dem Gedanken, dass er jetzt die Chance hat, einen günstigeren Job zu erlangen oder eine Fortbildung zu starten.
Demnach hängen unsere Gottesbilder nicht bloß von Erläuterungen ab, die uns die Religionen bieten, sondern zu einem Großteil von unseren seelischen Zuständen und geistigen Einstellungen, mit denen wir alles ringsum beurteilen. Es gibt aber Zeugnisse von Personen, die ihr gesamtes Überzeugungsspektrum umgekrempelt und ihr Dasein in revolutionär neue Bahnen gelenkt haben. Wenn sie gefragt wurden, was der Auslöser dafür gewesen sei, konnten sie es nicht verstandesmäßig erklären. Sie seien einem Traum, einer urtümlichen Eingebung folgend ins Gottvertrauen hineingesprungen – und aufgefangen worden.

Vertrauen ist eine Entscheidung
Im Letzten ist es eine Entscheidung. Bei einem Vertrauensakt kann man grundsätzlich nie wissen, ob er gerechtfertigt ist. Wüsste man es, bräuchte es das Vertrauen ja nicht. Im Prinzip ist jede Entscheidung ein Vertrauensakt. Entschließt man sich etwa zu einer bestimmten Berufswahl, weiß man nicht, ob man sie nicht eines Tages bereuen wird. Entscheidet man sich zu einer bestimmten Partnerwahl, weiß man nicht, ob sie sich als tragfähig erweisen wird.
Entscheidung und Vertrauen, Ungewissheit und Wagnis, gehören zusammen, ebenso wie Vertrauensmangel und Entscheidungsmangel parallel laufen.
Allerdings gibt es Phänomene, die man nicht willentlich bei sich erzeugen kann: Man kann nicht wollen wollen, so merkwürdig das klingt. Man kann auch nicht lieben wollen, glauben wollen, hoffen wollen – und auch nicht vertrauen wollen. Alle diese Phänomene haben einen „Vorgänger“: Wertvolles lockt das Wollen hervor. Liebenswertes lockt die Liebe hervor. Glaubwürdiges lockt den Glauben hervor. Vertrauenswürdiges lockt das Vertrauen hervor. Wir leben in keiner heilen Welt, aber wer unbeirrt Ausschau hält nach dem Wertvollen, Liebenswerten und Erhaltenswerten in ihr, wird ohne Zweifel reichlich fündig werden.
Interview mit Elisabeth Lukas als Video

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