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Lesedauer: ca. 10 Min.

Von Gärten und Meeren

Essay von Stephan Baier

Zwei widerstrebende Sehnsüchte prägen die Geschichte des Menschen: Er will die Geborgenheit und Sicherheit einer behaglichen Heimat, aber zugleich hinaus in die Ferne, auf der Suche nach Abenteuer und Freiheit.

Am Anfang war der Garten

„Gott, der Herr, nahm also den Menschen und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte“, weiß die Heilige Schrift der Juden wie der Christen. Der Garten Eden ist „Üppigland“, wie der jüdische Philosoph Martin Buber bildstark übersetzt. Von allem ist reichlich da: Pflanzen und Tiere, vor allem aber Wasser, der Inbegriff des Lebens. Das Bebauen und Hüten ist keine Sklavenarbeit; nicht lästige Mühe, sondern schöpferisches Mitwirken am Werk des göttlichen Schöpfers. Alles ist in Harmonie: Gott und Mensch – Mensch und Natur.

Doch die Harmonie zerbricht: zunächst die Harmonie zwischen dem Menschen und seinem Gott, dann die Harmonie mit und in der Natur. Gott schickt den Menschen weg aus dem Garten Eden, „damit er den Ackerboden bestelle, von dem er genommen war“, wie das biblische Buch Genesis erzählt. Seither ist Arbeit knechtisch, ist das Leben mühsam und schwer. Jetzt gibt es Konkurrenz und Feindschaft, Schufterei und Sklaverei. Seit die Harmonie des Anfangs zerbrach, ist auch das ökologische Gleichgewicht in Gefahr. So erleben wir unser Leben: Stets verdunkeln Anstrengung und Gefahr das Traumbild von Eden.

Geblieben aber ist die Sehnsucht

Die Sehnsucht nach einem Leben in vollkommener Einheit und Harmonie, in Frieden und Sicherheit. Geblieben ist – ganz unabhängig von unserer Religion – eine tiefinnerliche Sehnsucht nach Eden, dem Garten schlechthin. Der Erfolg der beiden „Avatar“-Filme ist wohl genau so zu erklären: Hier geht es um einen paradiesischen Garten, in dem die Lebewesen mit der Gottheit und mit der Natur grundsätzlich in Harmonie leben – und um eine von außen hereinbrechende, gewaltige und böse Bedrohung dieses Gartens Eden. Auch das heilige Buch der Muslime, der Koran, zeichnet das Paradies als Garten, der alles bietet „was die Seele begehrt und für die Augen eine Wonne ist“. Bäche von Wasser, Milch, Wein und Honig sollen dort fließen. Alles ist in diesem Üppigland im Übermaß und ohne unser Mühen vorhanden – „Leben in Fülle“, wie Jesus es uns verhieß, aber in menschlichen und allzumenschlichen Bildern.

Als Paradies bezeichnete der griechische Wissenschaftler und Staatsmann Xenophon den Garten des persischen Königs Kyros, den er im Jahr 392 vor Christus auf seiner Reise durch Persien in Pasargade besuchte. Kein Wunder: Inmitten der lebensbedrohlichen Wüste ist der grüne, von Wasser durchzogene Garten eine Oase des Lebens, ein Ort der Zuflucht und der Geborgenheit, der Schönheit und der Entfaltung.

Eden als der ideale Garten ist uns – quer durch viele Kulturen – als Sehnsuchtsort tief in die Seele eingeschrieben: als Sieg des Lebens über die Sterblichkeit; der Wüste (heute vielfach der Betonwüste) abgerungen.

Das Chaos kommt von alleine, doch für die Ordnung muss man sorgen

Der Garten ist nicht einfach nur Natur, sondern Harmonie von Natur und Kultur – alles im rechten Maß. Wir alle kennen diese Erfahrung: Wenn wir unseren Garten nicht bebauen und hüten, dann verwildert oder versteppt er. Er wird Urwald oder Steppe. Das Chaos kommt ganz von alleine, doch für die Ordnung müssen wir immer und stetig sorgen. So verwildert oder versteppt auch der Garten von alleine; er bleibt nur Garten, wenn wir ihn stetig bebauen und hüten. Insofern ist der Garten eine Frucht menschlicher Kultur.

Immer aber bleibt er zugleich Natur: abhängig von Bodenbeschaffenheit, Klima und Wetter. Wer einen Garten kultivieren will, muss auf die Natur hören. Er muss wissen, was wo unter welchen Umständen gedeiht, muss mit den Jahreszeiten und den Wechselfällen des Wetters umzugehen wissen. Der Gärtner kämpft nicht gegen die Natur, sondern veredelt und verwandelt das Natürliche. Der Garten verlangt Wissen, Einfühlungsvermögen und Kreativität, also zugleich Demut und Gestaltungswillen.

Als Belohnung verspricht er Geborgenheit. „Unser Garten“ ist er nur für die allerengste Familie, schon gegenüber dem Nachbarn ist er „mein Garten“. Er duldet Gäste nur auf Zeit, sonst wäre er nicht mehr ein Garten, sondern ein Park.

Um die tiefe Sehnsucht des Menschen nach dem Garten Eden trotz aller Widrigkeiten zu verwirklichen, schuf der Mensch als Kulturleistung den Hausbau. Präziser: das Heim. Denn Häuser kann man auch alleine oder (moderne Hochhäuser etwa) mit einer anonymen Vielzahl von Menschen bewohnen. Das Heim aber verlangt das Du. Nur wenn hier eine vertraute, möglichst eine geliebte Person wartet, wird das Haus zum Heim. Es kann bescheiden oder prächtig sein, eine windschiefe, karge Hütte oder ein komfortabler Palast: Allein das vertraute Du macht aus dem Haus ein Heim. Und erst durch das Heim wird der Garten zu einem Ort der Sicherheit und Geborgenheit.

Der britische Abenteurer und Geheimagent T. E. Lawrence, eine Art James Bond seiner Zeit, der als „Lawrence von Arabien“ weltberühmt werden sollte, versuchte im Ersten Weltkrieg, die arabischen Stämme für den Aufstand gegen die osmanische Herrschaft zu begeistern. In seinen mythisch verklärten Lebenserinnerungen schildert er, wie er den „eisgrauen Dhaif-Allah“ in seinem „grünen Garten von El Kurr“ für die Aufstandsbewegung zu gewinnen suchte. Doch der wollte mit der britischen Freiheitsidee „Arabien den Arabern“ gar nichts zu tun haben. Lawrence resignierte schließlich: „Er war ein freier Mann, brauchte nichts für andere – und für sich nur seinen Garten. Ihm leuchtete nicht ein, warum nicht auch andere in solcher Kargheit sich reich fühlen sollten.“

Im Herzen jedes Menschen schlummert eine zweite Sehnsucht

Kein Wunder: Warum sollte er, der bereits einen kleinen paradiesischen Garten sein Eigen nannte, diese Geborgenheit und Lebensfülle aufgeben, alle Sicherheit von sich werfen und in die Wüste hinausziehen, wo nur Entbehrung und Tod warten?

Warum aber, so darf man gegenfragen, haben andere genau das getan? Warum verließen sie ihre wasserreichen Gärten, um sich der sengenden Hitze der Wüste, dieses Ozeans aus Sand, auszusetzen? Warum verließen Menschen die Sicherheit und Geborgenheit ihres Heims, um in die Ferne zu ziehen, sich Abenteuern und Ungewissheiten auszuliefern? Ganz einfach: weil im Herzen jedes Menschen neben der Sehnsucht nach dem Garten Eden (und allem, wofür er steht) eine zweite Sehnsucht schlummert.

Er will zugleich heim – und hinaus!

Der Mensch sehnt sich nicht nur nach Sicherheit, Geborgenheit, Vertrautheit und Ordnung, sondern stets auch nach Freiheit, Weite, Ungewissheit und Abenteuer. Er will zugleich heim – und hinaus! Wie der Garten für das Sichere, Vertraute, ja für die Geborgenheit des Heims steht, so fasst das Meer die Sehnsucht nach Ferne, Weite, Abenteuer und Freiheit ins Bild.

Moses führt das Volk Israel durch die Wüste, durch das Sandmeer des Sinai, in die gartenhafte Geborgenheit des verheißenen Landes. Die antiken Römer brauchten Jahrhunderte, um das Mittelmeer zu „unserem Meer“ (mare nostrum) zu machen. Wer sich wundert, warum es für sie wichtiger war, die Karthager in Nordafrika und die Piraten in der Ägäis niederzuringen als gegen Germanen und Gallier zu ziehen, muss nur einen Blick auf die Landkarte werfen: Rom liegt in der Mitte des Mittelmeeres, auf halbem Weg zwischen den beiden Meerengen Gibraltar und Bosporus.

Der römische Wille, das Mittelmeer zu kontrollieren, entsprang ihrer Sehnsucht nach Macht: Erst als der Widersacher Karthago auf der Gegenseite des Meeres niedergerungen war, als die Piraten besiegt und alle Küsten unter römischer Kontrolle waren, war Rom ein Imperium. Nun war der Austausch von Waren, Kulturen und Menschen auf der großen Wasserstraße sicher. Erst jetzt konnte sich der machthungrige Abenteurer Caesar den Wäldern Germaniens und den Sandwüsten Nordafrikas zuwenden.

Die Grenzen alles bisher Bekannten überschreiten...

Nicht der Hausbau hat Rom zum Imperium gemacht, sondern der Schiffsbau – nicht die Sehnsucht nach Geborgenheit, sondern nach Freiheit – nicht der Wunsch nach Sicherheit, sondern die Bereitschaft zum Abenteuer.
Ja, vielen Eroberern ging es vor allem um die Ausweitung ihrer Macht, vielen Entdeckern um Reichtum und Ruhm. Doch wer genau hinsieht, wird erkennen, dass Gestalten wie Alexander der Große, Julius Caesar oder Napoleon in ihrem Eroberungsdrang nicht alleine nur von Machtgier und Herrschaftslust getrieben waren. Sie waren – brutal und rücksichtslos gewiss – auch Entdecker mit dem Schwert in der Hand, so wie Christof Columbus, Vasco da Gama oder Ferdinand Magellan Entdecker mit der Seekarte in der Hand waren.

Das Bahnbrechende ihrer Tat hätten sie wohl weder gedacht noch gewagt, wenn nicht tief in ihrem Herzen eine Sehnsucht gewesen wäre, die Grenzen alles bisher Bekannten und Gesicherten zu überschreiten, sich – alle Sicherheiten hinter sich lassend – in das Abenteuer des Unbekannten zu stürzen.

Garten und Meer stehen bildhaft für zwei tief im Herzen eingeschriebene Sehnsüchte des Menschen. Hausbau und Schiffsbau stehen ebenso bildhaft für den Versuch, diesen Sehnsüchten durch menschliche Kulturleistung zu entsprechen. Nie ist es dem Menschen – anders als dem Tier – genug, bloß zu überleben. Stets strebt er über sich hinaus, will entdecken, erforschen und erobern; stets strebt er zugleich nach ultimativer Beheimatung, will sich einen Rückzugsort schaffen und ankommen.