- Autor: Stefan Rehder
- Fotos: Bernhard Spoettel
Anna Wiesböck ist tot.
Familie Wiesböck - Familienleben ohne Mutter
Anna Wiesböck ist tot. Für die Behörden des Freistaats Bayern ist das eine Tatsache. Eine, die amtlich beglaubigt wurde. Annas Totenschein, ausgestellt auf den 2. Mai 2018, vermerkt als Zeitpunkt ihres Todes: 18:30 Uhr. Und doch lebt Anna weiter. Zumindest in den Herzen derer, die sie zurücklassen musste. Gemeinsam bewohnen sie heute, nach ihrem Umzug vor zwei Jahren, im oberbayerischen Vaterstetten – nach Unterhaching die bevölkerungsreichste Gemeinde Bayerns – ein von weißem Rauputz verkleidetes Reiheneckhaus nebst Garten. Zugegeben, für Liebhaber großer Architektur ist der Bau, in dem Annas Stimme nie erklang, nicht unbedingt ein Augenschmaus. Dafür ist er funktional. Geräumig genug, um zehn Menschen zu beherbergen: Annas Mann und ihre gemeinsamen Kinder. Neun an der Zahl.
Thomas Wiesböck nennt das neue Heim der Familie einen „Glücksfall“. Auch weil sich die Hausarztpraxis, in der er als Allgemeinarzt tätig ist, jetzt nur noch wenige Meter entfernt befinde. Dort lässt sich der lang aufgeschossene Allgemeinmediziner, der Brille zu hoher Stirn trägt, derzeit vertreten. Als die frisch operierte Achillessehne ein zweites Mal riss, musste der 48-Jährige sein Stethoskop erneut gegen ein Paar Krücken und einen orthopädischen Spezialschuh tauschen.

Liebe auf den zweiten Blick
Kennengelernt habe er Anna beim Weltjugendtag 1997 in Paris, als beide während des Wartens auf die Ankunft Papst Johannes Pauls II. „zufällig“ nebeneinander zu sitzen kamen, erzählt Thomas. Anna sei 19, er 23 Jahre alt gewesen. „Es war definitiv keine Liebe auf den ersten Blick.“ Das sei auch nicht möglich gewesen. Schließlich habe er sich damals noch für eine andere junge Frau interessiert, mit der ihn eine längere Brieffreundschaft verband. Doch in Annas Gegenwart habe er, der im Beisein von Frauen kaum ein Wort herausbekommen habe, sich aufgehoben und sicher gefühlt. „Ungezwungen“, „natürlich“ und „amüsant“, umreißt Thomas ihre erste Begegnung. Dabei weiten sich seine Pupillen, wie beim Anblick eines geliebten Menschen. Und so habe er eingewilligt, als Anna ihn wenige Tage nach ihrer Rückkehr anrief und ein weiteres Treffen vorschlug. 26 Jahre ist das jetzt her.
Aus Freundschaft, ohne die Liebe die Stürme des Lebens nicht überdauern kann, wird schnell mehr. Dennoch läuten die Hochzeitsglocken für Anna und Thomas erst 2001. Ein Grund: Sowohl Anna als auch Thomas seien in Familien aufgewachsen, in denen Wert darauf gelegt wurde, dass alle zusätzlich zu den Beziehungen untereinander auch eine zu Gott pflegen. Er habe deshalb auch von Gott „ein Zeichen“ gewollt, dass Anna „die Richtige“ sei, erzählt Thomas. Bei einer gemeinsamen Fahrt ins Heilige Land im Jahr 2000 habe er sich Aufschluss erhofft. Doch zu seinem Leidweisen seien Anna und er in unterschiedlichen Reisegruppen mit entgegengesetzten Routen gelandet. Erst gegen Ende der Reise, bei einem Besuch der Grabeskirche, habe er Anna plötzlich die Treppe herunterkommen gesehen. Heute besucht die Familie jeden Sonntag gemeinsam Annas Grab. Vor dem mächtigen Stein aus weißem Marmor empfiehlt dann ein jeder Gott seine Anliegen und bittet Anna um Fürsprache. Das Kreuz, damals wie heute, das lang ersehnte Zeichen. Für Thomas das Symbol, dass Christus in ihrer Ehe auch im Leiden anwesend ist.
Diagnose Darmkrebs
In der siebzehn Jahre währenden Ehe mit Thomas gebar Anna neun Kinder. Fünf Jungs
(Leonhard, 21; Vincent, 19; Linus, 14; Theo, 12; Anton 11) und vier Mädchen (Emilia, 18; Lucida, 16; Josepha, 9 und Hanna, 7). Als Anna die Diagnose Darmkrebs erhält, ist sie mit Hanna schwanger. Eine Abtreibung, die Annas Frauenärztin Thomas noch am selben Abend anrät, sei weder für Anna noch ihn jemals in Frage gekommen. Beide waren sich unausgesprochen einig. Anna und er hätten alle ihre Kinder – einschließlich Hanna – stets als „Segen“ und „Geschenk“ betrachtet, erzählt Thomas.
„Anna“, weiß Thomas, „wäre so oder gestorben“. Der bösartige Tumor sei zu aggressiv, die Teilungsrate der Tumorzellen in Annas jungen Jahren einfach zu hochfrequent gewesen. Daran hätte auch eine Abtreibung Hannas nichts geändert. Überhaupt, so wirkt es auf den Betrachter, ist Hanna der Stolz der Familie. Sie wurde drei Monate vor ihrem errechneten Geburtstermin per Kaiserschnitt geholt, um Anna eine Chemotherapie zu ermöglichen, von der jeder wusste, dass sie Annas Leben zwar um einige Monate verlängern, aber nicht retten könne. Glücklicherweise hat Hanna, anders als viele andere „Frühchen“, durch die frühe Geburt keine gesundheitlichen Schäden davongetragen. Wer Hanna begegnet, erlebt eine ganz normale Siebenjährige.

9 Kinder ohne Mama
Für Hannas acht ältere Geschwister gilt das nicht. Jeder von ihnen wirkt mindestens zwei Jahre reifer als seine Altersgenossen. Mitunter auch mehr. Lucida etwa, die alle „Luci“ rufen, hat im Sommer ihren Realschulabschluss gemacht. Im Herbst beginnt die 16-Jährige eine Ausbildung als Pflegefachfrau. Ihr Fernziel beschreibt sie so: „Ich will als Intensivschwester auf einer Frühgeborenenstation arbeiten.“ Als 11-Jährige habe sie Hanna mit Anna auf der Intensivstation besuchen dürfen. Die „Liebe“, mit der die Schwestern dort die in ihren Brutkästen liegenden Kinder umsorgt hätten,habe sie nachhaltig beeindruckt. „Ja, es stimmt schon“, sagt Lucida, „Es gibt dort viel schweres Leid. Aber eben auch viel Liebe.“
Ihre Mutter sei eine „extrem starke“ und „sehr selbstlose Person“ gewesen. „Wir Kinder kamen immer zuerst.“ Trotz der Kräfte zerrenden Chemotherapie habe sie darauf bestanden, das Haus allein zu putzen. Wenn jemand Einwände erhob, habe sie nur gesagt: „Bitte, lasst mich das machen. Ihr werdet es noch oft genug selbst tun können.“ Niemals habe sie sich beklagt. Nur auf der Intensivstation, beim Blick auf die kleine Hanna durch das Plexiglas des Brutkastens seien ihr die Tränen gekommen. „Da habe ich zu ersten Mal bewusst wahrgenommen, dass meine Mutter auch weinen kann“, erinnert sich Lucida.
Leonhard, der Erstgeborene, will Gymnasiallehrer werden. Im 25 Kilometer entfernten München studiert er Mathematik und Katholische Theologie. „Ich hasse das Studium, aber ich will einfach den Job später machen“, erklärt der 21-Jährige seine Berufswahl. Wie viele Wiesböcks trägt auch er Brille. Obwohl ihn alle nur „Lennie“ rufen, ist der junge Mann mit der Föhnfrisur, der auf jedem Schulhof der Welt als fertiger Lehrer durchginge, für sämtliche Geschwister eine Autorität. „Es ist schön, einen älteren Bruder zu haben, zu dem ich aufschauen kann“, sagt Vincent. Der 19-jährige Medizinstudent ist der Zweitgeborene und bereitet sich derzeit auf das mündliche Physikum vor.




"Gott ist kein Monster"
„Meine Mutter war eine sehr durchsetzungsstarke Frau, sehr präsent in der Familie und immer für uns da. Für mich war sie die perfekte Mutter“, sagt Leonhard. „Sie wollte stark sein. Selbst als sie die Treppe kaum noch rauf oder runter kam. Sie hat sich für uns aufgeopfert.“ Körperlich und emotional. „Wenn ich etwas ausgefressen hatte, bin ich immer zuerst zu meiner Mutter gegangen.“ Sie habe „einfach einen sehr besonderen Blick für die jeweilige Person gehabt“, erinnert sich Leonhard.
Ihre Mutter sei für Sie der „emotionale Fels“ gewesen, sagt Emilia. Die 18-Jährige, die alle „Emmi“ nennen, ist die älteste Tochter und „die Nummer drei in der Thronfolge“. Blaue Augen, das blonde Haar elegant nach hinten gekämmt. Im Frühjahr hat sie ihr Abitur gebaut. Im September beginnt sie ein 12-monatiges Praktikum bei einem Restaurierungsbetrieb für Holz und Möbel. Als bei ihrer Mutter der Tumor diagnostiziert wird, ist Emilia elf. Sie habe damals nicht gewusst, was Krebs sei. Doch dass „etwas Schlimmes“ geschehen sei, habe sie sofort verstanden. Schließlich sei ihre Mutter nie krank gewesen und habe auch nie zum Arzt gemusst.
Als die Eltern die vier älteren Kinder zusammenrufen und ihnen die Diagnose mitteilen, „hat mich meine Mutter in den Arm genommen und gesagt: ,Gott ist kein Monster.’ Das gerade sie das sagte, obwohl ihr doch gerade etwas Schlimmes widerfuhr, hat mich damals sehr beruhigt“, erinnert sich Emilia. Seitdem begleite sie der Satz.
Bei den Wiesböcks hat das sogenannte „Wort aufschlagen“ Tradition. Dabei wird die Bibel ziellos an einer Stelle aufgeschlagen und dann die Stelle vorgelesen, auf die das Auge zuerst trifft. Am Abend der Diagnose geht die Familie auch so vor. „Das Wort“, wie die Wiesböcks das nennen, auf das sie dabei treffen, lautet: „Die Füchse haben ihre Höhlen, die Vögel ihre Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“ Mt 8,20. „Anna hat sofort verstanden, worum es geht“, sagt Thomas Wiesböck. Überschrieben sei der ganze Abschnitt mit „Von der Nachfolge“. „Und da hat sie gesagt: Überleg’ doch mal, wo ist Jesus hingegangen? Nach Jerusalem, ans Kreuz.“

Eine Stelle aus der Offenbarung
Für die Elfjährige war das zu hart. Als die Kinder zu Bett gehen, wiederholen Emilia und Lucida in ihrem Zimmer das „Wort aufschlagen“. Dabei treffen sie auf eine Stelle aus der geheimen Offenbarung des Johannes, in der es heißt:
„Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ Offb 21,4.
Bei Annas Beerdigung wird später diese Textpassage den „Totenzettel“ für die Trauergäste zieren.

Als die vom Palliativdienst betreute Anna zu Hause stirbt und sich die Kinder nacheinander von ihr verabschieden, erträgt die damals 13-Jährige Emilia den Anblick der wehrlosen, schwer atmenden und von Krankheit gezeichneten Mutter fast nicht.
Und weil sie keine Kraft hat, die Mutter direkt anzusprechen, sagt sie stattdessen zu dem neben dem Bett stehenden Vater, dass die Mama die beste Mutter auf der ganzen Welt ist. „Schon klar“, das sei ein Satz, den viele gerne am Muttertag hervorholten und insofern auch „ein wenig billig. Aber damals habe ich es halt genauso gemeint“, sagt Emilia. Ihre Mutter sei für sie ein „großes Vorbild“. Von ihr habe man lernen können, dass „zu lieben“ beinhalte, „die anderen mit all ihren Unzulänglichkeiten geduldig zu ertragen“, sagt Emilia.
Aus der Schule ihrer Mutter kommend stellt sie nicht einmal die klassische Definition des mittelalterlichen Theologen und großen Kirchenlehrers Thomas von Aquin (1225–1274) restlos zufrieden: „Lieben heißt: jemandem Gutes tun wollen“, schreibt der große Heilige in seiner berühmten Summa theologica. „Ohne ein Lob oder eine andere Gegenleistung zu erwarten“, ergänzt die 18-Jährige.


"Anna fehlt an allen Ecken und Enden"
„Anna“, sagt Thomas Wiesböck, „fehlt an allen Ecken und Enden.“ Das sei in fünf Jahren auch nicht anders geworden. Witwer und alleinerziehender Vater von neun Kindern zu sein, könne man schließlich nicht studieren. „Einmal“, berichtet Thomas, habe ihm einer der jüngeren Söhne gestanden: „Warum ist eigentlich die Mama gestorben und nicht du?“ Gelte es wichtige Entscheidungen zu treffen, fahre Thomas zum Friedhof und bete an Annas Grab.
Unterstützung für ihr geistliches Leben finden die Wiesböcks beim „neokatechumenalen Weg“, einer geistlichen Bewegung innerhalb der katholischen Kirche, der sich weltweit rund 1,5 Millionen Gläubige zurechnen. Mit ihr waren die älteren vier Kinder in diesem Jahr beim Weltjugendtag in Lissabon. Im Wohnzimmer der Wiesböcks hängt die Kopie einer Ikone, die der Gründer des Neokatechumenats, der spanische Künstler Francisco José Gómez de Argüello y Wirtz, gemalt hat und die Anna besonders mochte. Sie zeigt den auferstandenen Christus dabei, wie er Adam aus dem Grab zieht.
Wer das Haus der Wiesböcks verlässt, kommt auch an einer weiteren Ikone nicht vorbei,
die die Familie über dem Türstock der Haustür angebracht hat. Sie zeigt den „guten Hirten“, lateinisch „pastor bonus“, eine der ältesten Bezeichnungen für Jesus Christus.

Eigentlich keine Überraschung, bezeichnet sich Jesus im Johannesevangelium doch selbst als „guter Hirte“, der sein Leben für die Schafe gebe (vgl. Joh 10,11). Zuvor heißt es dort: „Ich bin die Tür zu den Schafen (…) wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden; er wird ein- und ausgehen und Weide finden. (…); ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,9-10).
Anna, so glauben die Wiesböcks, lebt bereits in dieser Fülle. Für den Außenstehenden – eine weitere Überraschung – hat es den Anschein, als ginge es der Familie beinah ähnlich. Der Grund hier: Wahre Liebe reicht über den Tod hinaus. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn wenn Gott ewig und die Liebe ist, vermag Liebe auch Raum und Zeit zu überwinden. Nichts anderes meint unsterblich.
Welch ein Glück, einer solchen unsterblichen Liebe begegnen zu dürfen: In Vaterstetten, wo die Wiesböcks auch weiterhin ihr Leben mit Anna teilen. Wenn auch inzwischen anders als noch vor fünf Jahren. Damals, als auch Anna noch sterblich war.
Interview mit Familie Wiesböck als Video

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