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Ausgabe 02 Hoffnung

„Wie weit muss ich gehen, um mich selbst zu finden?“

Autor: Benedikt Bögle | Bilder: Bernhard Spoettel, Simon Gehr

„Wie weit muss ich gehen, um mich selbst zu finden?“

„Was will ich denn wirklich?“ „Was erhoffe ich von meinem Leben?“

Wenn der Alltag solche Fragen erstickt, ist es Zeit aufzubrechen. Äußerer Abstand kann helfen, sich innerlich zu sortieren, auf neue Gedanken zu kommen. Reisen weitet den Horizont. Aber wohin? Australien, Peru, Santiago oder einfach ins Kloster Metten?
Das Leben ist eine Pilgerreise. Manchmal merkt man das erst später.

Turbo-Abi, Ausbildungsstress, Studium. Dazwischen Praktika, Fortbildungen, Kurse. Immer auf die Konkurrenz achten, sein Bestes geben, um nicht selbst überrundet zu werden. Wer einen guten Job will, braucht nicht nur ein gutes Zeugnis. Hervorragende Englisch- und Computerkenntnisse sollten schon sein. Kein Auslandsaufenthalt? Schwierig. Kaum Arbeitserfahrung? Schwierig. Also müssen Praktika her. Selten gut bezahlt, oft wenig ergiebig, Ausgang ungewiss. Was hilft’s? Da muss man durch. Schließlich geht es allen so.

„In unserer Gesellschaft steigt der Druck, sich anzupassen“, findet die Regensburger Psychologin Stefanie Orthuber. „Gleichzeitig soll jeder er selbst oder gar etwas Besonderes sein, soll sich von anderen abheben. Man kann beinahe von einem Zwang zum Individualismus sprechen.“ Die Psychologin beschreibt einen unmöglichen Spagat zwischen Anpassung und Authentizität. Beides möglichst in Perfektion. Umso wichtiger sei es, sich immer wieder zu reflektieren und sich zu fragen: „Was denke ich wirklich? Was fühle ich diesbezüglich? Ist das wirklich meine Meinung oder will ich nur gefallen?“, sagt Orthuber. Oft lässt der Alltag kaum Zeit für solche Fragen. Dann heißt es raus, weg von Routinen und Gewohnheiten. In einer neuen Umgebung auf andere Gedanken kommen, neue Erfahrungen machen und sich selbst besser kennenlernen. Schnell wird es dann grundsätzlich: „Wo stehe ich?“ „Was will ich wirklich?“ „Wohin soll meine Lebensreise gehen?“ „Karriere, Partnerschaft, Kinder: Was ist mir wichtig?“ Stimmt die Richtung, stimmen die Prioritäten? Fragen, die einen umtreiben können. Für manchen kommt nach langen Berufsjahren plötzlich der Moment des Innenhaltens: „Raus aus dem Hamsterrad der Pflichten. Ich muss was ändern! Das kann es doch nicht gewesen sind? Was ist aus meinen Hoffnungen und Plänen geworden?“ Antworten können hart sein oder ganz einfach. Aber wo findet man sie?

Acht Monate in Bethlehem

Theresia Stolberg: „Ich wusste nicht, was ich studieren wollte.”

Auch Theresia Stolberg (24) ist weit gereist. Nach dem Abitur flog sie nach Peru und engagierte sich dort bei verschiedenen sozialen Projekten. „Ich wusste nicht, was ich studieren wollte.“ Die Zeit in der Fremde hat ihr geholfen, ihren Berufswunsch zu klären. „In Peru wurde mir klar: Ich will Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin werden. Zurück in Deutschland folgte die Ausbildung. Danach ging es wieder ins Ausland. Diesmal zog es Theresia in eine andere Richtung. Acht Monate lang arbeitete sie im „Holy-Family-Hospital“ in Bethlehem.
„Ich wollte in einem Geburtskrankenhaus arbeiten, um möglichst viele Geburten zu erleben.“ In ihrem Krankenhaus kamen monatlich bis zu 360 Kinder zur Welt. Theresia ist sich sicher: „In Deutschland hätte ich nicht die gleichen Erfahrungen machen können.“ Wahre Freundschaft habe sie schätzen gelernt, sagt sie. Und wertvolle Erfahrungen mit Einsamkeit und Stille gemacht. Die Zeit im Ausland möchte sie nicht missen. Sie hat sie geprägt und die Weichenstellungen ihres Lebens entscheidend beeinflusst.

Bis ans andere Ende der Welt

Manuel Roch: „Ich wollte arbeiten und die Welt sehen.“

Manuel Roch (23) war ganz weit weg. Mittlerweile studiert er Jura in Regensburg. Die Entscheidung für ein Studium fiel am anderen Ende der Welt: in Australien. Neun Monate hat er dort gelebt, 15.000 Kilometer zurückgelegt. „Arbeiten und die Welt sehen“, hatte er sich vorgenommen. Nach dem Abi war für ihn der ideale Zeitpunkt. „Die Chance hat man danach nie wieder.“ Von heute auf morgen musste sich Manuel in einem wildfremden Land zurechtfinden, gemeinsam mit einer Freundin hat er sich auf den Weg gemacht. „In Australien trifft man immer Leute, die als ,Backpacker‘ unterwegs sind“, erinnert er sich. Arbeit suchen, ein paar Wochen an einem Ort bleiben, Geld verdienen, weiter geht’s. Die Städte, die Küsten, das Outback: Australiens Vielfalt beeindruckt. Manuel hat viel erlebt. Das prägt, das verändert – einen selbst und die Sicht auf viele Dinge. Reisen weitet den Horizont, heißt es. Im Ausland leben und arbeiten, eröffnet völlig neue Perspektiven. Menschen, Begegnungen, Ereignisse: Unzählige Eindrücke und Erinnerungen hat Manuel mit nach Hause genommen. Sein Plan zu studieren ist in „Down Under“ gereift. Er würde gerne wieder hin. „Das wäre ein Traum.“ Träume sollte man nicht leichtfertig aufgeben. Es lohnt sich zu träumen. Begegnungen in Australien haben ihm das mehr als einmal gezeigt.

3.000 Kilometer zu Fuß unterwegs

Hans Kolbinger: „Ich muss den Jakobsweg machen.“

Oft wird einem erst nach Jahren bewusst, wie wegweisend eine „Auszeit vom Alltag“ im Ausland war. Phasen der Orientierung oder der Veränderung gibt es nicht nur vor Beginn eines neuen Lebensabschnitts. Manchmal muss man sich mitten im Leben neu verorten.
Hans Kolbinger weiß das – aus Erfahrung. Heute ist er 74 Jahre alt. 2004 entschloss er sich, den Jakobsweg nach Santiago de Compostela zu gehen. Kolbinger hatte Karriere gemacht. Als Industriechemiker war er international unterwegs, lange hatte er in China gearbeitet. In Shanghai führte er 500 Mitarbeiter. Ständig „unter Strom“, immer auf Achse. Irgendwann fühlte er sich nirgends mehr zu Hause. „In Shanghai hatte ich Heimweh nach der Oberpfalz, in der Oberpfalz nach Shanghai.“ Der Jakobsweg hatte ihn schon seit seiner Kindheit fasziniert. „Von heute auf morgen war mir klar: Ich muss den Jakobsweg machen“, erinnert er sich. Kolbinger startete in Regensburg. 104 Tage brauchte er. Mehr als 3.000 Kilometer hat er zurückgelegt. Zu Fuß. Rund 30 Kilometer täglich. Bei jedem Wetter. Auch wenn die Blasen an den Füßen schmerzten.

Der Weg kostete Überwindung. „Man muss sich darauf einlassen, andere jederzeit um Hilfe zu bitten und diese Hilfe dann auch ohne Gegenleistung anzunehmen“, sagt Kolbinger. Nicht einfach. Schon gar nicht für einen Macher wie ihn. Der Weg hat ihm geholfen, Probleme hinter sich zu lassen, wesentlich zu werden. Er wurde zufriedener und lernte Dinge schätzen, die er daheim für selbstverständlich hielt. „Man kommt anders zurück, als man gegangen ist. Man lernt sich und seine Grenzen kennen.“ Heute sagte er: „Der Jakobsweg gehört zu den wichtigsten und schönsten Erinnerungen meines Lebens.“ Sein Pilgerpass hat über hundert Seiten. Für ihn ist der Pass ein Schatz. Er bewahrt ihn in einem Banksafe auf.

Klarheit, Struktur, Stille

Abt Wolfgang Maria Hagl: „Stille aushalten, sich selbst aushalten.“

Es müssen nicht 3.000 Kilometer Fußmarsch sein. Manchmal führt der Wunsch, sich zu sortieren oder neu zu orientieren, in ein Kloster in der Nähe. In der niederbayerischen Benediktinerabtei Metten wartet Abt Wolfgang Maria Hagl auf die Gäste. Seit 1989 steht er dem Kloster als Abt vor. Klarheit, Ordnung, Stille: Nirgendwo findet man das so wie im Kloster. In der Hektik des Alltags wächst die Sehnsucht danach.
„Wir laden einzelne Gäste zum Mitleben im Kloster ein: Es gibt kein Programm und keine Vorträge.“ Dafür aber einen klar strukturierten Tag. „Wir beginnen morgens um fünf Uhr mit dem Morgengebet und beenden den Tag mit dem Abendgebet kurz vor 20 Uhr. Dazwischen leben die Gäste in Stille. Das verändert die Menschen. Es ist ein heilsamer Rhythmus. Man geht anders heim als man kam“, sagt Abt Wolfgang. „Stille ist die größte Kraft, die wir anbieten können. Hier bei uns kann man ganz alleine sein. Alles was wir verdrängen, steigt unweigerlich auf. Man muss sich mit sich selbst auseinandersetzen.“ Stille kann laut sein. Der Abt erinnert sich an einen Gast, dessen Frau ihm den Klosteraufenthalt geschenkt hatte. Ihr Mann hatte sich das lange gewünscht. „Er kam am Vormittag und war am Abend wieder weg – er hat die Stille nicht ausgehalten.“ Stille aushalten, sich selbst aushalten: Das will gelernt sein.

Der Abt ermutigt dazu. „Es geht darum, den Menschen ernst zu nehmen und Empathie zu zeigen. Es geht nicht darum, dass ich etwas Schlaues weiß, sondern darum, den Menschen zu helfen, selbst eine Antwort auf das Problem zu finden.“ In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Gäste in Metten gestiegen. Meistens kämen Menschen mit Beziehungsproblemen, berichtet der Abt. „Der Knackpunkt ist fast immer die Beziehung. Irgendetwas im Beziehungsgeflecht stimmt nicht. Menschen kommen ins Kloster und haben die Hoffnung, dass sie mit jemandem drüber reden können. Auf diese Weise können wir Leuten begegnen, die man sonst nicht erreicht. Das empfinde ich als großes Glück.“ Nach Metten kommen auch viele kirchenferne Menschen und Christen, die nicht katholisch sind. Ob Ausland oder Kloster, ob in Gemeinschaft oder Stille: Entscheidend sind nicht zurückgelegte Kilometer, sondern die Erfahrung, bei sich selbst anzukommen, seinen persönlichen Lebensweg zu entdecken. „Suche nicht draußen. Kehre in dich selbst zurück. Im Innern des Menschen wohnt die Wahrheit“, hat Augustinus geschrieben. Der Mann kannte sich aus mit den Exzessen des Lebens, mit den „Ups“ und „Downs“ und mit der Last, inmitten vieler Irrwege die eigentliche Lebensaufgabe zu entdecken. Kein Wunder, dass sein Satz auch heute noch in Coachingseminaren für Manager zitiert wird. Australien oder Augustinus? Kinderklinik oder Kloster? Das sind keine Widersprüche. Manchmal ist der weiteste Weg der zu sich selbst. Aber auf den Pilgerwegen des Lebens ist kein Schritt vergebens.